: Tore als glänzende Pointen
DIE SPIELER DES JAHRHUNDERTS. FOLGE 4: Die 30ER-Jahre – Matthias Sindelar aus Österreichs Wunderteam war der genialische Kaffeehausfußballer schlechthin ■ Von Norbert Seitz
Viele Jahrhundert-Fußballer sind schon gekürt worden. Aber alle Juroren übersahen immer das Problem mit den Äpfeln und Birnen: Wer will ernsthaft Mario Basler mit Helmut Rahn vergleichen, welcher Maßstab soll für Gordon Banks und Heiner Stuhlfauth gleichermaßen gelten oder für Jean Tigana und Leônidas da Silva? taz-AutorInnen bewerten Spieler in ihrem Umfeld und in ihrer Zeit. Streng objektiv, versteht sich, mit subjektiver Auswahl. Unsere Serie wird alle 10 Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts einzeln abdecken.
Die Wiener Fußballwelt hatte immer auch mit Elementen der Bohème- und Kaffeehauskultur zu tun. Neben dem Gewerkschaftsclub Rapid galten die „gstopften“ Violetten von der Wiener Austria als ein „Team des Gagenfußballs“, benebelt von „stickigem Kaffeehausdunst“. Matthias Sindelar war die von der Kaffeehausliteratur ästhetisierte Figur schlechthin. So schwelgte etwa Feuilletonist Alfred Polgar: „Sindelars Schuss saß wie eine glänzende Pointe.“
Der „Papierne“, wie er zunächst wenig schmeichelhaft betitelt wurde, weil man ihn für zu weich und filigran hielt, wurde 1903 in Iglau geboren und kam als so genannter Ziegelbehm in den Wiener Arbeiterbezirk Favoriten. Früh rannte er bloßfüßig dem Fetzenlaberl hinterher und legte das Dress der Wiener Hertha an, ehe er sich den so genannten Amateuren anschloss, später: FK Austria.
Zum Idol avancierte der Mittelstürmer des Wunderteams als Protagonist des berühmten Wiener Scheiberl-Spiels, einer Mischung aus körperlosem Einsatz und verwirrendem Kombinationswitz. Seine tänzelnde Spielweise wurde gern mit der Wiener Kaffeehausliteratur verglichen. Sindelar war Spielmacher und Sturmcenter in einem, ein Typus, wie er später auch von Nandor Hidegkuti und Alfredo di Stefano stilprägend verkörpert wurde.
Im Mai 1931 begann die Ära des Wiener Wunderteams mit einem 5:0-Sensationssieg über die Schotten. Nur eine Woche später schlug Österreich Deutschland im Berliner Grunewaldstadion mit sage und schreibe 6:0, und bei der Revanche im September im neuen Wiener Stadion auf der Hohen Warte hieß es immer noch 5:0. Es war Sindelars Festival. Die Reporter schwelgten: „Der Papierne arbeitet mit selten gesehener Ambition, ja er ließ sich dauernd auf Kämpfe um den Ball ein, obwohl ihn die Gegner nicht mit Glacéhandschuhen anfassten. Das dritte und vierte Tor waren Schaustücke vollendeter Fußballkunst.“
„Sindelar, du bist so wunderbar“, dichteten die Stadionpoeten. Und als die 60.000 nach dem Schlusspfiff „Sindi, Sindi“ schrien, weinte auch sein Mutterl vor Glück: „Wenn das der Johann hätte erleben können“, Sindelars Vater, der, seit 14 Jahren in fremder Erde, auf der Höhe 521 der Generalstabskarte der K. u. K.-Armee an der Isonzofront im Ersten Weltkrieg einen habsburgischen Heldentod gefunden hatte.
1933 gewann Austria Wien den Mitropacup, ein Vorgängerwettbewerb zum heutigen Europacup. Sindelar schoss das entscheidende Goal gegen Ambrosiana Mailand und wurde fortan heftig umworben. Eine wahre Solidaritätswelle im Lande versuchte ihn mit allen Mitteln zu halten.
Bei der Fußballweltmeisterschaft 1934 in Italien, des Duces Betrugsturnier, erwischte das mitfavorisierte österreichische Team nicht seine beste Laune. Die angespannten Verhältnisse zu Hause – einen Monat vor der Ermordung von Bundeskanzler Dollfuß – hatten auch in der Mannschaft für einige Verwirrung gesorgt. Sindelar wurde im Halbfinalspiel gegen Italien vom italienischen „Schlächter“ Monti krankenhausreif getreten. Dezimiert unterlag das demoralisierte rot-weiß-rote Team gegen Deutschland im Spiel um den dritten Platz mit 2:3.
Nach dem „Anschluss“ hatte Reichstrainer Herberger noch vergeblich versucht, den „Rasenmozart“ für das völlige Fehlkonstrukt einer Mannschaft „Großdeutschlands“ zu gewinnen, die auf der WM 1938 in Frankreich jämmerlich einbrechen sollte. Der Papierne hatte auch aus Altergründen verzichtet. Herberger blieb indes davon überzeugt, dass Sindelars Korb politisch motiviert war.
Erst recht zur Legende wurde Matthias Sindelar durch die dubiosen Umstände seines frühen Todes nur wenige Monate nach der Annexion Österreichs. Die Hiobsbotschaft erreichte Wien an einem klaren Wintersonntag, dem 23. Januar 1939, als Österreichs vergötterter Fußballstar in der Wohnung seiner Freundin in der Annagasse tot aufgefunden wurde. Der Polizeibericht nannte als Ursache „Tod durch Kohlenoxydgasvergiftung“. Später wollte man erfahren haben, dass der Abzug des Ofens mit Watte absichtlich zugestopft worden sei. Freunde, mit denen „Sindi“ am Abend zuvor zusammen war, wollen nicht den geringsten Hinweis auf Depressionen gemerkt haben. War es, wie ein Journalist später schrieb, „ein nicht geklärtes Zwischenspiel, bei dem Gott Amor Regie führte und Sindelar den Schierlingsbecher leerte, den ihm seine Freundin gereicht hatte?“
So kreist bis heute um die Gasvergiftung des Fußballidols und seiner Freundin aus dem Prostituiertenmilieu ein Legendenmix aus Fußball-Mayerling und Antifaschismus. Friedrich Torberg dichtete in seinem berühmten Kitschpoem „Er war gewohnt zu kombinieren, / er kombinierte manchen Tag. / Sein Überblick ließ ihn erspüren, / dass seine Chance im Gashahn lag.“
Ernst Happel schwor noch bis zu seinem Tode 1992, es besonders genau zu wissen, dass man seiner jüdischen Freundin den Besitz konfisziert habe, woraufhin beide den gemeinsamen Suizid beschlossen hätten. „Seine Freundin atmete noch, aber weil sie Jüdin war, hat man sie sterben lassen.“ Dietmar Grieser wühlt sich in seinem Bändchen „Liebe in Wien“ durch diesen Legendenberg. Danach war der gute Sindelar nicht nur ein Opfer des Nationalsozialismus, sondern auch vorübergehend Besitzer eines arisierten Kaffeehauses. Das Paar sei „im postkoitalen Tiefschlaf“ Opfer eines plötzlich aufgetretenen Kamindefektes geworden. Mehr soll’s nicht gewesen sein, aber zumindest „a scheener Dod“.
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