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Geschichte geht durch den Magen

Auf der Suche nach einem Menüplan zum Ende des 20. Jahrhunderts hat das Kochkolleg Luisenau in der Uckermark ein Jahrtausendmenü konzipiert, das jedes Jahrhundert in dem zu Ende gehenden Millennium mit einem Gang vorstellt, inspiriert von einer Person oder einem Ereignis, das der jeweiligen Epoche ihre Signatur gab. Mehr als ein Festtagsessen von Eberhard Knödler-Bunte

Genüsse lassen sich weder historisieren noch objektivieren. Vielleicht liegt darin der tiefere Grund, weshalb der Kochkunst bis heute die höheren Weihen der Ästhetik versagt bleiben. Aber wir können uns durch das Erproben anderer Küchen für fremde Länder und vergangene Kulturen öffnen, um etwas über uns selbst zu erfahren. Essen kann auch ein Anteil nehmendes Erinnern an Vergangenes sein. Nicht nur das Abendmahl, auch die kleinen Feste mit Familie und Freunden wissen diese Kraft kollektiven Erinnerns zu nutzen. Was hält uns davon ab, zum Ende eines großen, barbarischen Jahrtausends das gemeinsame Essen als eine Zugangsweise zu entfernten Wirklichkeiten zu nutzen? Essen wir also und reisen wir zurück zum Anbeginn des Jahrtausends.

11. Jahrhundert: Die Kochgeschichte des christlichen Abendlandes beginnt mit dem Versuch, die heiligen Stätten Palästinas von den „Ungläubigen“ zu befreien. Das Morgenland geht verloren, aber die Kreuzritter kehren heim mit wunderbarem Gepäck. Was kochgeschichtlich zählt, sind die vielen neuen Gewürze, die mit den heimkehrenden Kreuzrittern sich nun auch nördlich der Alpen ausbreiten. Stand und Vermögen drücken sich durch üppige Gewürzbeigaben aus, selbst der Wein ist davon nicht ausgenommen. Bis tief ins Mittelalter hinein ist der über Kräuter, Gewürze und Honig abgeklärte Weißwein eine besondere Spezialität, der als Klartrank oder claret in den Handel kommt und dem Meth erfolgreich Konkurrenz macht.

12. Jahrhundert: In den Klöstern wird im frühen Mittelalter erprobt, was später zur modernen Lebensweise zählt: Rationalität im Umgang mit der Natur wie mit den höchsten Dingen. Die Institutionalisierung von Wissen macht die Klöster nicht nur zum Ausgangspunkt zweckorientierter Arbeit, sondern auch zum Ursprungsort mitteleuropäischer Kochkultur. Kaum ein Produkt, das nicht durch die klösterliche Kultivierung erst zu dem geworden ist, was wir heute schätzen: gut ausgebaute Weine, sorgfältig gehopftes Bier, liebevoll gepflegte Kräutergärten. Hildegard von Bingen hat diesen Kräutern heilsame Kräfte abgerungen. Ihr Name ist heute in der Vollwertküche untrennbar verbunden mit dem Dinkel, jener Urform des Weizens, der Namensgeber vieler deutscher Städte und Dörfer war.

13. Jahrhundert: Im Wald weht der freie Geist, er ist der Rückzugsort des deutschen Mannes. Das gilt für die alten und neuen Eliten ebenso wie für den passionierten Freizeitjäger. Hier im Wald kann der Mann noch in der Jagd seiner ursprünglichen Beschäftigung nachgehen und sich aller zivilisatorischen Fesseln entledigen. Aber der Wald ist auch bis weit in die Neuzeit hinein Zuflucht für diejenigen, die sich dem Zugriff der modernen Obrigkeit entziehen: rebellische Bauern, politische Flüchtlinge und zivilisatorisch Ausgegrenzte. Das Märchen Hänsel und Gretchen warnt vor den unübersehbaren Gefahren des Waldes und die Jagdgesetze vor den schlimmen Folgen der Wilderei. Das Wild ist dem Herrentisch vorbehalten, und das Jagdprivileg des Adels ist eines der letzten Standesrechte, das der Demokratisierung zum Opfer fällt. Vielleicht ist dies der Grund, weshalb wir gemeine Bürger so begierig auf das Fleisch der wilden Tiere sind. Robin Hood, der edle Streiter der Verfolgten und Enterbten, ist nicht umsonst zum Ahnherrn einer deutschen Umweltinitiative geworden.

14. Jahrhundert: Was der christlichen Sittenlehre nicht gelingt, schafft der Schwarze Tod, der Europa Mitte des 14. Jahrhunderts durchzieht und millionenfache Opfer kostet. Aus Angst vor Ansteckung schließen die für ihre lockenden Versuchungen von erotischen und kulinarischen Essen gerühmten Badehäuser die Pforten. Die Anfänge der Aufklärung etablieren sich durch die blutige Unterdrückung von allem, was sich ihren neu entdeckten Regeln und Schamschwellen widersetzt. Verfolgt wird, was an die eigenen ungezügelten Affekte erinnert: Frauen, die zu Hexen stigmatisiert werden, Zigeuner und anderes fahrendes Volk, schließlich die Juden.

Die Kultur des Essens wird zu einer Messer-und-Gabel-Frage. Die Beherrschung der Tischsitten regelt das Oben-und-Unten. Der große Topf mit Gerstensuppe, aus dem die Tischgemeinschaft löffelt, macht den Tafeln der Herren Platz, auf denen die einzelnen Speisen voneinander getrennt liegen. Entmischung ist angesagt, von Arm und Reich, von Gut und Böse, von Haupt- und Nebenspeise.

15. Jahrhundert: Die theoretische Konstruktion eines unendlichen Universums, das keinen Mittelpunkt hat, fällt zeitlich zusammen mit der Entdeckung der Neuen Welt. Die erste Welle der Globalisierung konfrontiert die europäische Kultur mit Menschen und Gegenständen, die sie nie zuvor wahrgenommen hat. Zunächst als edle Wilde und paradiesische Früchte bestaunt, werden sie schnell zum Gegenstand eines profitablen Handels für die aufsteigenden westeuropäischen Staaten.

Aber es dauert noch lange, bis die Produkte aus der Neuen Welt Eingang in die einheimische Küche finden. Den Siegeszug des Rohrzuckers und des Rums setzten die britisch-westindischen Zuckerlobbyisten in Gang; aber erst mit der Durchsetzung von Tee und Kaffee als Hauptgetränk steigert sich der Bedarf am süßen Rohr ins Unermessliche.

Von den vielen Importen aus der Neuen Welt können sich in Europa besonders Paprika, grüne Bohnen und die Tomate, auch Liebes- und Paradiesapfel genannt, einbürgern, vor allem über das Königreich Neapel. Schwerer hat es die Kartoffel. Zunächst als abscheulichstes Gemüse geschmäht, breitet es sich nur zögerlich im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts aus. Erst die Hungersnöte des 18. und 19. Jahrhunderts lassen es in Deutschland heimisch werden.

16. Jahrhundert: Seit der Teilung Germaniens durch den Limes hat kein Ereignis unsere Kultur so sehr geprägt wie die religiöse Spaltung Deutschlands. Den protestantischen Norden trennen Welten von der katholischen Küche Süddeutschlands und Österreichs. Es ist nicht nur eine Frage der protestantischen Abwehr gegenüber der unübersichtlichen Gemengelage im Inneren der Tiere, die ihnen lebenslang den Appetit auf gebackenes Kalbsbries, saure Nieren, Herz und Kutteln vergellt. Damit hängt auch die Schwierigkeit zusammen, lebensweltliche Balancen an den Spannungspolen auszuleben. Zwischen Alltag und Fest, zwischen überbordender Ausgelassenheit und der verinnerlichten Sparsamkeit gibt es im Süden keine harmonische protestantische Mitte. Dies ist der Grund, warum im Süden das Essen besser, die Gespräche in der Gastwirtschaft lauter und die Feste inflationär sind – und der Fasching in Berlin keine Chance hat.

Für die armen Bauern schafft die Reformation eine neue Legitimationsbasis, indem sie die in den Heiligen Lasten nicht enthaltenen Abgaben als ungöttlich erklärt. Dagegen revoltieren die wohlhabenderen Bauern, die etwas zu verlieren haben und sich ihren Kapaun nicht vom Tisch wegnehmen lassen: aus dem Elsass und Schwaben, aus Thüringen und aus Österreich.

17. Jahrhundert: Der Dreißigjährige Krieg resultiert aus der religiösen Spaltung Deutschlands. Die dadurch entstandene politische Schwäche macht Deutschland zu einem Kampfgelände europäischer Großmächte und verhindert einen deutschen Nationalstaat in der Mitte Europas. Die politischen und wirtschaftlichen Folgen des Krieges sind unermesslich: Die Städte verfallen, die ländliche Bevölkerung verarmt. Das Trauma der deutschen Zerissenheit ist bis heute als Bezugsrahmen präsent und führt zu jener verspäteten Nationalstaatsbildung, die sich im 20. Jahrhundert schließlich als rassistische Volksgemeinschaft und als Griff zur Weltmacht hypertrophiert. Kulturgeschichtlich ist der Dreißigjährige Krieg ein kollektiver Schock, von dem sich das selbstständige Bauern- und Kleinbürgertum nie richtig erholt. Kultur bleibt, jedenfalls für die Oberschichten, bis weit ins 19. Jahrhundert hinein französisch geprägt.

Die gute Küche und ihre Fachsprache kommen aus Frankreich und, mit Abstrichen, aus England. Davon kann im Dreißigjährigen Krieg und in den nachfolgenden Zeiten keine Rede sein. Hier geht es um eine Kultur des Überlebens, die in der Figur des Simplicissimus und in Brechts Mutter Courage ihre beredten Vertreter findet. Auf den Tisch kommt, was man vor den räubernden Söldnern in Sicherheit bringt.

18. Jahrhundert: Im Feudalstaat ist Öffentlichkeit Repräsentation von Herrschaft, die wirklichen Machtarenen sind nicht öffentlich. Aber mit wachsendem Selbstbewusstsein entdeckt das Bürgertum den öffentlichen Raum als wichtigen Kommunikationsort. Aus den Garküchen, Tabernarien und den Herbergen, die für Essen und Logis zuständig sind, werden public houses (Pubs).

Zwischen Wirtshaus und Kaffeehaus gibt es eine Vielzahl von Zwischenstufen, und auch die ausgesprochenen Kaffeehäuser bieten mehr als Kaffee und alkoholische Getränke. Das neue Publikum der Bürger verlangt schnelle und kleinere Mahlzeiten. Auf diese Weise entsteht das kleine Menü, das sich an der feudalen Tafel orientiert, die Anzahl der Speisefolgen aber erheblich reduziert. Auch bei den Produkten orientiert man sich an den Essgewohnheiten der jeweils höheren Klasse. Der begüterte Bürger ist begierig auf Trüffeln und Austern, auf herrschaftliches Geflügel und Wild, das dem Adel vorbehalten war, während das Kleinbürgertum sich an der verfeinerten Küche des städtischen Bürgertums delektiert. Diese kleine Küche hat als Restaurantküche bis heute überlebt. Nur das Liebäugeln mit feudalen Vorbildern ist dem imaginären Flirt mit bekannten Küchenchefs oder berühmten Gästen gewichen.

19. Jahrhundert: Die große bürgerliche Küche Europas hat Konjunktur und wird international. Ihr Ursprungsort liegt in den Luxushotels in Paris, London und Monte Carlo. Sie ist unlöslich verbunden mit den großen Kochkünstlern Antonin Careme und Auguste Escoffier, dem wohl berühmtesten Kochbuchautor Italiens, Pellegrino Artusi, und dem ersten großen Gastrosophen Anthelme Brillat-Savarin. Ihm ebenbürtig ist sein deutscher Nachfolger, Carl Friedrich von Rumohr.

Essen wird als Kultur salonfähig, und das Reden darüber Teil kultureller Selbstverständigung. Die ersten Frauen emanzipieren sich von Küche, Keller und Kind und beginnen im Salon einen neuen Diskurs, während die Männer sich der Industrialisierung der Lebensmittel zuwenden. Das 19. Jahrhundert erfindet Konserve und Fleischextrakt, chemische Zusätze und Dauerprodukte, die, etwa in Form der Erbswurst, sich zur Versorgung großer Truppenkonzentrationen und anderer Massenveranstaltungen anbieten.

20. Jahrhundert: Die Konzentration der Ernährungsindustrie, die mit der Standardisierung ihrer Produkte einhergeht, gewinnt unvorstellbare Ausmaße. Die Küche, einst bäuerliche Einheit von Nahrungsproduktion und gemeinschaftlichem Essen, wird zum Anhängsel einer industriellen Produktionskette. Am Anfang dieser Kette steht der agrarische Großbetrieb, der seine Rohstoffe an den Weltmarkt abgibt, am Ende steht der Einzelkonsument, der als Käufer industrieller Fertigprodukte um schnelle und einfache Sättigung bemüht ist.

Die andere Realität sind die vielen Nischen, die Orientierung an regionalen Küchentraditionen, der Anspruch auf hohe handwerklich-gastronomische Qualität, die Lust am Selbermachen.

Das kurze 20. Jahrhundert hat beides hervorgebracht: ein unvorstellbares Ausmaß von Standardisierung, die Massenproduktion wie die massenhafte Vernichtung von Menschen und eine Freisetzung der Menschen für selbst geschaffene Lebensziele. Diese zwei Gesichter der Moderne erzwingen nicht mehr das Entweder-Oder, die ideologisierte Alternative zwischen Fertigprodukt und Slow Food, zwischen Aldi und selbst gemachter Teigtasche. Ins Visier kommt vielmehr, am Ende dieses Jahrhunderts, ein neues Verhaltensmodell der intelligenten Auswahl und kreativen Nutzung. Management of situations – die selbstbewusste Nutzung von Genuss- und Wahrnehmungsmöglichkeiten im Kontext des eigenen Selbstkonzeptes – wäre dies ein strategisches Modell, um als Mitgewinner im 21. Jahrhundert im Spiel zu bleiben?

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