: Lehren aus einem Völkermord
Die UNO legt einen selbstkritischen Bericht zu ihrem Versagen in Ruanda vor. Doch heute ist sie im Kongo gerade dabei, wieder die gleichen Fehler zu machen ■ Von Dominic Johnson
Berlin (taz) – In der UNO passieren schon merkwürdige Dinge. Da kabelt der Kommandeur einer Blauhelmtruppe den Militärberater des UN-Generalsekretärs an mit der Mitteilung, in seinem Stationierungsland lege eine Gruppe Waffenlager an, um Massaker großen Ausmaßes zu begehen, „1.000 Leute alle zwanzig Minuten“. Man müsse dies sofort unterbinden.
Der UN-Apparat reagiert so: Die zuständige Abteilung informiert weder den Generalsekretär noch den UN-Sicherheitsrat. Dann weist der damalige Untergeneralsekretär namens Kofi Annan den politischen Leiter der betroffenen UN-Mission an, „nichts zu unternehmen“. Als der nachfragt, was er denn nun machen solle, schickt Annan ein zweites Telegramm: Man möge den Staatspräsidenten bitten, etwas zu unternehmen. „Der vorrangige Gedanke“, so schreibt Kofi Annan, „ist die Notwendigkeit, einen Handlungskurs zu vermeiden, der zur Anwendung von Gewalt und unvorhergesehenen Rückwirkungen führt.“
Der Blauhelmkommandeur macht also nichts. Die Waffenlager werden aufgestockt. Drei Monate später kommen sie zum Einsatz. 800.000 Menschen sterben.
Noch nie ist die Geschichte des Telegramms mit der vergeblichen Warnung vor einem Völkermord an Ruandas Tutsi, das der örtliche UN-Kommandeur General Romeo Dallaire am 11. Januar 1994 nach New York schickte, so detailliert beschrieben worden wie in dem von der UNO in Auftrag gegebenen Untersuchungsbericht zu Ruanda, der am Donnerstag veröffentlicht wurde. Schonungslos werden alle Fehlentscheidungen und Koordinationsmängel der UN-Mission beschrieben, die dazu führten, dass sie den Völkermord nicht verhinderte. Kein Beteiligter bleibt ungeschoren, und die Schlussfolgerungen treffen den Punkt. Zum Umgang mit Dallaires Telegramm heißt es: „Informationen einer UN-Mission, dass Pläne gemacht werden, um eine Gruppe von Menschen auszulöschen, verlangen eine sofortige und entschlossene Antwort.“
Die Untersuchung eines dreiköpfigen Expertenteams wurde im März von Kofi Annan in seiner jetzigen Funktion als UN-Generalsekretär angeregt. Sie war eine Reaktion auf entsprechende Untersuchungen in Frankreich und Belgien und wachsender Kritik am Schweigen der UNO. Ihr Bericht kommt kurz nach einem ähnlich selbstkritischen UN-Bericht zum Versagen der UN-Truppen im bosnischen Srebrenica 1995.
Folgenlos wird der Bericht nicht bleiben. Er empfiehlt dem UN-Generalsekretär, einen „Aktionsplan zur Verhinderung von Völkermord“ zu erarbeiten und sich bei Ruanda zu entschuldigen. Wichtiger ist diese Forderung: „Die Vereinten Nationen – und insbesondere der Sicherheitsrat und Truppen entsendende Länder – müssen zum Handeln bereit sein, um Akte des Völkermordes oder schwere Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, wo auch immer sie stattfinden mögen. Der politische Wille zu handeln sollte nicht unterschiedlichen Standards unterworfen sein.“
Man darf gespannt sein, wie die UNO dieses Prinzip auf Tschetschenien anwendet. Näher liegend ist aber der Fall der Demokratischen Republik Kongo, wo die UNO derzeit im Begriff ist, denselben Fehler wie einst in Ruanda zu begehen – sie drängt erst auf ein Friedensabkommen zwischen Bürgerkriegsparteien und tut dann nichts, wenn es zusammenbricht.
Es war kein Zufall, dass der Ruanda-Bericht am Mittwoch Kofi Annan vorgelegt und am Donnerstag veröffentlicht wurde, während der UN-Sicherheitsrat am Mittwoch den ganzen Tag lang über Afrika debattierte und am Donnerstag speziell über die Lage im Kongo. Zwischen der Fertigstellung des Lusaka-Friedensabkommens für den Kongo im Juli und dieser UN-Sicherheitsratsdebatte vergingen fast genau so viele Tage wie zwischen der Unterzeichnung des Arusha-Friedensabkommens für Ruanda 1993 und Dallaires Warntelegramm. Die UNO will beweisen, dass sie aus ihren Fehlern in Ruanda gelernt hat, und damit an Glaubwürdigkeit für erneutes aktiveres Handeln in Afrika gewinnen.
Im Sicherheitsrat fehlte es nicht an entsprechenden Hinweisen und an einem breiten Konsens dafür, dass die UNO im Kongo eingreifen müsse. Sogar der eher skeptische US-Botschafter Richard Holbrooke sagte, Kongo werde „für die Zukunft der UNO nächstes Jahr genau so wichtig sein wie Kosovo und Osttimor dieses Jahr“.
Da steht der UNO aber noch viel Arbeit bevor, und zwar gerade im Bereich Koordination, dessen Mängel der Ruanda-Bericht aufdeckt. So gibt es mehrere nebeneinander arbeitende internationale Kongo-Vermittler, und die Kongo-Aktivitäten der UNO sind nicht mit denen der „Organisation für Afrikanische Einheit“ (OAU) abgestimmt. Sollte es im Kongo heute einen Dallaire geben, der ein warnendes Telegramm schicken will – er würde gar nicht wissen, wer der richtige Empfänger ist.
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