Mit der Rückgabe Macaus endet für China ein Jahrhundert der Opfer. Die Bewältigung dieser Vergangenheit fängt gerade erst an
: Pardon für Peking

Mao hat zu 70 Prozent Gutes und zu 30 Prozent Schlechtes getan, so die Formel

Mit der roten Fahne, die seit Mitternacht über Macau weht, ist die Ära des Kolonialismus im Reich der Mitte ein für alle Mal beendet, und man könnte meinen, so starte China unbelastet von der Vergangenheit ins neue Jahrtausend. Doch leider ist das Gegenteil richtig. Kein anderes Volk der Welt hat im 20. Jahrhundert so viel Opfer bringen müssen wie das chinesische. Und dabei wissen die Chinesen bis heute nicht, warum ihr Volk so unendlich vieler Menschenleben beraubt wurde. Kaum ein Drama der vergangenen hundert Jahre ist in ihren Geschichtsbüchern ordentlich aufgearbeitet worden. Noch nie haben sich die vielen Völkermörder, denen die Chinesen in diesem Jahrhundert begegneten, auf anständige Art und Weise bei ihren Opfern entschuldigt.

Man kann heute nur ahnen, wie viel verdrängter Horror und Rachedurst noch in Geist und Seele der Chinesen schlummern. Aber man muss realistisch davon ausgehen, dass die vielen Millionen ungesühnter Verbrechen der chinesischen Vergangenheit nicht vergessen sind und China gemeinsam mit der übrigen Welt ihnen im 21. Jahrhundert wird Tribut zollen müssen. Der Preis der Geschichte kann umso höher ausfallen, je schneller die Macht Chinas in der Welt wächst. Mit anderen Worten: Die Geschichtsbewältigung steht unter Zeitdruck, wenn sie kommende Konflikte rechtzeitig entschärfen will.

Wie aber ist zu verhindern, dass die Weltmacht von morgen blind in die Zukunft rennt? Je kürzer die Verbrechen zurückliegen, desto dringender, aber auch desto schwieriger ist ihre Aufarbeitung. Natürlich läge es nahe, zuerst über die Opfer vom Tiananmen-Platz zu sprechen, die im Frühjahr 1989 von der chinesischen Volksarmee ermordet wurden. Doch da die heutige Führung des Landes den Befehl zur Niederschlagung der damaligen Studentenrevolte gab, wehren sich Chinas Politiker mit allen Mitteln, für ihre Untat zur Verantwortung gezogen zu werden. Das erschwert jeden Rückblick außerordentlich.

Politisch vermint ist auch die Geschichte der Kulturrevolution (1966 – 1976). Für viele Chinesen verbindet sich mit dieser Zeit ein Abgrund täglicher Leiden. Der Staat hörte damals auf zu funktionieren, und überall im Land regierte Willkür, Hass und Not. Besonders die Intellektuellen wurden geschunden. Sie galten als verantwortlich für den korrupten Kommunismus, den die jungen Roten Garden der Partei auf Geheiß Mao Tse-tungs vorgaben zu bekämpfen. Für chinesischen Verhältnisse recht früh begann die Aufarbeitung dieser Zeit Ende der Siebzigerjahre. Die so genannte „Tränenliteratur“ beschrieb die Leiden der Intellektuellen. Auf dem Land entledigten sich die Bauern der Zwangskommunen und übten Kritik an der Partei. Doch auch hier schob die Regierung rasch einen Riegel vor: Mao habe zu siebzig Prozent Gutes und zu dreißig Prozent Schlechtes bewirkt, lautet bis heute die offizielle Vergangenheitsformel für die Ära des Großen Vorsitzenden.

Die Kommunisten entschieden auch unter dem Einfluss Deng Xiaopings, am Gründungsmythos ihrer Partei festzuhalten. Die Kritik an Mao durfte deshalb nicht zu weit gehen. Das hatte zur Folge, dass insbesondere der „Große Sprung nach vorn“ (1959 – 1962), Maos nach Opferzahlen größtes Verbrechen, keine annäherend vollständige Re-Interpretation in den Geschichtsbüchern fand. Auf Grund einer verfehlten Wirtschaftspolitik, die die Bauern zur Aufgabe ihrer Felder zwang, verhungerten in dieser Zeit vermutlich 30 Millionen Menschen. Noch heute lernen chinesische Schüler die Mär von den Naturkatastrophen, die in diesen Jahren angeblich die Hungersnot bedingten.

Besser sind die Chinesen hingegen über die Verbrechen in der ersten Jahrhunderthälfte informiert, an denen andere als die Kommunisten die Schuld trugen. Doch auch hier erweist sich die Vergangenheitsbewältigung als ungemein schwierig: Denn die Schuldigen sperren sich, der eigenen Verantwortung Rechnung zu tragen, indem sie sich des Vorwands bedienen, dass die Kommunisten ihre Sühne nicht verdienen. Das gilt für die Westmächte, für Japan und für die heute in Taiwan regierende Kuomintang.

Japan hat im Zweiten Weltkrieg zweifellos die schlimmsten Schandtaten in China begangen. Dafür hat sich die Regierung in Tokio in den letzten Jahren zwar vermehrt entschuldigt, doch eine schriftliche Reue-Erklärung wurde im vergangenen Jahr zurückgewiesen. So währt der Geschichtsstreit fort. Nirgendwo gibt es Ansätze für eine gemeinsame Vergangenheitsbewältigung: Was japanische Schulbücher unterschlagen, dichten chinesische Schulbücher hinzu. Oft basieren die auf Grund der hohen Opferzahlen moralisch gerechtfertigten Anschuldigungen der Chinesen auf ungesicherten historischen Fakten. Die wiederum greifen dann die Geschichtsrevisionisten in Tokio erfreut auf und an. Es bedürfte dringend gemeinsamer chinesisch-japanischer Historikerkommissionen. Doch dafür fehlt bisher auf beiden Seiten ganz offenkundig der politische Wille.

Nicht viel weiter ist die Geschichtsaufklärung bezüglich des chinesischen Bürgerkrieges zwischen Kommunisten und Kuomintang in den Vierzigerjahren und der beispiellos brutalen Regierungszeit unter dem Kuomintang-Gründer Tschiang Kai-scheck in den Dreißigerjahren, als Millionen unter ungeklärten Bedingungen verhungerten. Hier schlummert die historische Wahrheit im Streit zwischen China und Taiwan.

Viel verdrängter Horror und viel Rachedurst schlummern in Chinas Seelen

Aus der Sicht eines chinesischen Normalbürgers nicht weniger unverständlich ist schließlich auch des Desinteresse des Westens, die eigenen Kolonialverbrechen in China aufzuklären. Man weiß nur zu gut, dass der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts in Peking stattfand, als während des so genannten Boxeraufstandes 40.000 westliche Soldaten unter deutschem Oberkommando die chinesische Hauptstadt in Schutt und Asche legten und zehntausende von Zivilisten ermordeten. An dem Raubzug waren neben Deutschland auch England, Frankreich, Russland, Österreich, Italien, die Vereinigten Staaten und Japan beteiligt.

Insofern darf und muss die Vergangenheitsbewältigung in China nicht an den Regierungen in Peking, Tokio und Taipeh scheitern. Deutschland könnte den ersten Schritt tun, wenn sich bald die „Hunnenrede“ von Kaiser Wilhelm II. zum hundertsten Mal jährt. Mit den Worten „Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht“ befahl der deutsche Kaiser am 2. Juli 1900 den Völkermord. Noch heute lastet er auf der Psyche der Chinesen, so wie der ganze fast hundertjähriger Reigen der Gewalt. Doch es ist nie zu spät, Pardon zu geben – und um Pardon zu bitten.

Georg Blume