„Ohne Keller wären wir alle tot“

■ Viele Tschetschenen schaffen die Flucht aus dem umkämpften Grosny nicht. Auch in Inguschetien sind sie unerwünscht. Mit Essensentzug werden sie zur Rückkehr gezwungen

Berlin (rtr/taz) – Spezialeinheiten der russischen Armee und der Polizei wollen zwischen Mittwoch und Freitag mit der Einnahme der tschetschenischen Hauptstadt Grosny beginnen. Das berichtete die russische Nachrichtenagentur Ria gestern unter Berufung auf Militärkreise. Nach Angaben von Interfax sind bereits Aufklärungseinheiten nach Grosny entsandt worden. Das Morden in Tschetschenien geht nach dem Erfolg von Kriegspremierminister Wladimir Putins Einheitspartei bei den russischen Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag also weiter. Gestern setzten russische Einheiten ihre Angriffe fort. Dabei lieferten sie sich mit Rebellen heftige Gefechte vor den Toren Grosnys. Am Sonntag war es um den Fernsehturm im Süden der Stadt zu heftigen Kämpfen gekommen. Angaben der Rebellen zufolge sollen rund 40 Leichen im Niemandsland zwischen den Fronten liegen. Russische Soldaten und Rebellen haben sich auf mehreren Anhöhen vor Grosny verschanzt.

Angesichts der schweren Kämpfe klingt die Ankündigung des russischen Katastrophenministers Sergej Schoigu, mehrere Korridore stünden den Zivilisten als sichere Fluchtwege weiter offen, immer zynischer. „Viele Menschen sind immer noch in Grosny. Das sind Alte, Frauen und Kinder. In der Regel bleiben die zurück, die kein Auto haben und für eine andere Transportmöglichkeit nicht zahlen können“, berichtete der 65-jährige Duda Garbiekow der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Ihm war unter großen Schwierigkeiten die Flucht nach Inguschetien gelungen.

Auch dem 38-jährigen Mechaniker Ali Mawliew ist die Flucht nach Inguschetien geglückt. Trotz angekündigter Feuerpausen sei ständig bombardiert worden. Bevor er Grosny verließ, sei er noch in mehreren Kellern von Nachbarhäusern gewesen. Dort habe er 126 Menschen gezählt. Am Kontrollpunkt hätten russische Soldaten zehn Liter Benzin von ihm verlangt. „Sonst hätten sie mich nicht passieren lassen“, erzählt Ali Mawliew. Wie viele Menschen sich noch in Grosny befinden, ist nicht bekannt. Möglicherweise halten sich mehrere Zehntausend Menschen in Kellern versteckt.

Doch auch in Inguschetien sind die Tschetschenen nicht mehr in Sicherheit. Im Gegenteil: So berichteten zahlreiche Flüchtlinge im Lager Sputnik, dass sie von der Essensverteilung ausgeschlossen worden seien und damit zur Rückkehr gezwungen werden sollten. Sie stammen aus den Städten Sernowodsk, Assinowskaja und Atschkoi Martan, die sich im von russischen Streitkräften kontrollierten nördlichen Teil Tschetscheniens befinden. Es gebe eine Liste, auf der 24 Städte und Dörfer verzeichnet seien, die jetzt nach russischen Angaben als sicher gelten.

Auch Lipkhan, eine 39-jährige Mutter von elf Kindern aus Sernowodsk, soll keine Verpflegung mehr erhalten. „Ein Verwalter des Lagers kam zu mir mit einer Verordnung, dass ich und drei andere Familien aus Sernowodsk keine Lebensmittel mehr bekommen sollen. Hätte ich doch die Wahl. Dann würde ich hierbleiben, obwohl die Bedingungen unerträglich sind“, sagt Lipkhan. Sharwanai Chuchbarow, Leiter des Lagers Sputnik in Inguschetien, erklärt gegenüber Human Rights Watch: „Die russischen Streitkräfte garantieren die Sicherheit dieser Städte. Wir schlagen den Flüchtlingen vor, nach Hause zu gehen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie das wollen oder nicht.“

Wie der Alltag in den so genannten befreiten Gebieten aussieht, erfuhr unlängst ein Reporter der BBC, der es schaffte, auf einem Lastwagen mit Flüchtlingen in ein tschetschenisches Dorf an der Grenze zu Inguschetien zu fahren. Die Befreiungsaktion habe mit Bomben begonnen, berichtet Abu Gazajew, einer der Dorfbewohner. „Sie bombardierten die ganze Straße. Wir rannten alle in die Keller. Wenn wir die nicht gehabt hätten, wären jetzt alle tot“, sagt er. Und ein anderer Bewohner fügt hinzu: „Ich verstehe nicht, was die Russen tun. Hier hat es niemals Terroristen gegeben.“ bo