: Betrunkene Plünderer morden Dorfbewohner
Militärübergriffe im Dorf Alchan-Jurt erschüttern selbst russischen Vizepremier
Berichte, wonach russische Truppen bei der Einnahme des Dorfes Alchan-Jurt, rund 20 Kilometer südwestlich der tschetschenischen Hauptstadt Grosny, Anfang Dezember Zivilisten massakriert haben sollen, scheinen sich zu bestätigen.
Ein Amateurvideo, das BBC-Reportern zugespielt wurde, zeigt einen Wutausbruch des russischen Regierungsbeauftragten für Tschetschenien, Nikolai Koschman, gegenüber russischen Offizieren am Ort des Geschehens. „Dafür werden Sie persönlich zur Verantwortung gezogen werden“, sagt Koschman an einen Leutnant gewandt, und: „Etwas Derartiges habe ich in Tschetschenien noch niemals gesehen.“ Danach sind Dorfbewohner zu sehen, die Koschman eine Liste von 41 Getöteten übergeben. Daraufhin entgegnet Koschman: „Es gibt also Augenzeugen“, und kündigt an, Premierminister Wladimir Putin über den Vorfall in Alchan-Jurt zu informieren.
Das Video zeigt ebenfalls auf russischen Fahrzeugen verstaute, gestohlene Waren, wie Videorecorder, Teppiche und Geschirr. Laut Aussagen von Bewohnern des Dorfes seien viele Bewohner getötet worden, nachdem sie versucht hätten, die betrunkenen Soldaten an der Plünderung ihrer Häuser zu hindern.
Erstellt wurde das Video im Auftrag von Malik Saidulaew, einem steinreichen tschetschenischen Geschäftsmann, der bereits Interesse für die Präsidentschaft in Tschetschenien angemeldet hat. Der Millionär, der die größte Lotterie in Russland und eine Villa in London besitzt, geriert sich als Verbündeter Moskaus im Kampf gegen radikale Islamisten. Beobachter glauben, er habe das Video lanciert, um sich bei der tschetschenischen Bevölkerung als Verteidiger ihrer Rechte gegen russische Gräueltaten zu profilieren.
Unterdessen hat auch die Menschenrechtssorganisation Human Rights Watch weitere Hinweise auf das Massaker in Alchan-Jurt. Nach Aussagen von 15 Dorfbewohnern, die Vertreter der Organisation in Inguschetien befragten, seien 17 Menschen in Alchan-Jurt getötet worden. Die Aussagen seien glaubwürdig und deckten sich. „Das ergibt ein klares Bild des Grauens, das sich in Alchan-Jurt zugetragen hat“, erklärte Rachel Denber von Human Rights Watch.
Die russische Seite wies gestern die Berichte von Human Rights Watch zurück. Der Protagonist des Videofilms, Nikolai Koschman, sprach von einer bewussten Verdrehung der Tatsachen. Die Soldaten seien in Alchan-Jurt beschossen worden und hätten zurückschlagen müssen. Und Alexander Michailow, zuständig in der russischen Regierung für die Berichterstattung über den Krieg, sagte: „Die Aktionen der russischen Truppen, einschließlich des Innenministeriums, finden unter strikter Kontrolle der Militärstaatsanwaltschaft statt.“
Dennoch ermittelt die russische Justiz im Zusammenhang mit der Einnahme des Dorfes gegen Armeeangehörige. Das sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft.
Doch Human Rights Watch reicht das nicht. Die Organisation hat die Vereinten Nationen dazu aufgefordert, eine unabhängige Kommission einzusetzen, um Menschenrechtsverstößen russischer Streitkräfte in Tschetschenien nachzugehen. „Es ist unerlässlich“, so Denber, „dass internationale Organisationen an den Ermittlungen beteiligt werden.“ bo
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen