The New Millennium Experience

In Greenwich steht der Millennium Dome – eigens dafür errichtet, dass hier, wo auch der Nullmeridian verläuft, der Maßstab aller Zeit, das neue Jahrtausend eingeläutet wird. Das Event und alle Eventualitäten hat eine eigene Regierungsorganisation im Griff ■ Von Ralf Sotscheck

Um die Leute nach Greenwich zu schaffen, wurde die U-Bahn-Linie Jubilee Line verlängert und es gibt eine neue Anlegestelle

Der Millennium Dome hätte ihn fast umgebracht: Geheimagent James Bond konnte zwar gerade noch rechtzeitig aus dem Fesselballon abspringen, bevor der explodierte, aber 007 fiel auf das Dach der Jahrtausendkuppel und lädierte sein Schlüsselbein.

Die Kuppel in Greenwich, einer Landzunge im heruntergekommenen Londoner East End, bildet im neuen Bond-Film „Die Welt ist nicht genug“ die imposante Kulisse für eine Verfolgungsjagd auf der Themse. Die Briten sind genauso stolz auf ihren Millennium Dome wie auf ihren Geheimagenten, auch wenn er von dem Iren Pierce Brosnan gespielt wird. Beiden haftet der Glanz vergangener imperialer Größe an.

„Die Augen der Welt werden auf Greenwich blicken“, glaubt Jenny Page, die Geschäftsführerin von New Millennium Experience, der für die Kuppel zuständigen Regierungsorganisation. Durch Greenwich verläuft der Nullmeridian, der Ursprung der Zeit, und hier wird das neue Jahrtausend mit einer Show eingeläutet, die in 80 Länder live übertragen wird. Die Teflon-Kuppel mit ihren gelben Stacheln, die von weitem aussieht wie ein Zuckerberg mit zwölf Streichhölzern, ist ein Bauwerk der Superlative. „Es ist die größte Struktur ihrer Art in der Welt“, freut sich Jenny Page. Zehn St.-Paul’s-Kathedralen hätten darin Platz, zwölf Fußballstadien, 13 Albert Halls, die ägyptische Gaza-Pyramide, der quer gelegte Eiffelturm oder – etwas profaner – 12,8 Millionen Bierfässer. Die Kuppel enthält die beiden größten Kinoleinwände Britanniens, außerdem 16 Pubs und 50 Restaurants, darunter das größte McDonald’s Europas mit 5.000 Angestellten und Platz für 35.000 Gäste. Um die Leute nach Greenwich zu schaffen, das im 19. Jahrhundert Busby’s Sumpf hieß und später Standort für schmutzige und stinkende Industrieanlagen wurde, hat man die U-Bahnlinie Jubilee Line verlängert, am Themse-Ufer gibt es eine neue Anlegestelle für Schnellboote.

„Viele Europäer sind neidisch auf den Millennium Dome, vor allem die Deutschen und Franzosen“, schreibt der Journalist Robert McCrum. „Kein Wunder, dass New Labour das Projekt für sich beansprucht.“ Die Idee stammt freilich von den Tories, und sie sind noch immer davon begeistert: „Es ist die größte Sache, die Britannien jemals unternommen hat“, sagte der frühere Tory-Handelsminister Michael Heseltine. Als Labour vor zweieinhalb Jahren an die Macht kam, erklärte Tony Blair die Kuppel zum „Schaustück für New Labours Vision von Britannien im nächsten Jahrtausend“. Für Konservatismus sei da kein Platz. Blairs Vertrauter Peter Mandelson wurde zum „Dome Minister“ ernannt, bevor er wegen eines Finanzskandals seinen Hut nehmen musste und nach einer Schamfrist im Oktober als Nordirland-Minister zurückkehrte. „Ein Millennium passiert nur alle tausend Jahre“, sagte er damals tiefsinnig, war von seinem Projekt aber nicht sonderlich überzeugt, wie sich jetzt herausstellte: Er glaubte, dass man ihn zum Sündenbock machen wollte, falls sich die Sache als kostspieliger Flop erweisen sollte.

Doch von den 750 Millionen Pfund Baukosten, so betont Tony Blair bei jeder Gelegenheit, stamme kein Penny aus Steuergeldern. Mehr als die Hälfte komme aus Lottoeinnahmen, der Rest soll von Sponsoren und durch den Erlös der Eintrittskarten aufgebracht werden. Damit die Rechnung aufgeht, müssen zwölf Millionen Besucher im nächsten Jahr bereit sein, 20 Pfund Eintritt hinzublättern – also jeder dritte Einwohner zwischen acht und 60 Jahren, täglich 33.000 Menschen. Bisher ist das Interesse nicht übermäßig groß. Das Unternehmen, das für den Ticketverkauf zuständig ist, musste mehr als ein Viertel seiner Angestellten entlassen, weil sie oft stundenlang Däumchen drehten, während sie auf telefonische Kartenbestellungen warteten.

Die Werbeagentur M & C Saatchi soll das Interesse ankurbeln, dafür stehen ihr 16 Millionen Pfund zur Verfügung, einer der höchsten staatlichen Werbeetats in der Geschichte. Die Agentur bekommt 1,5 Millionen Pfund für ihre Bemühungen. Einer ihrer Geschäftsführer saß im Vorstand von New Millennium Experience und trat erst zurück, als der Vertrag mit Saatchi unter Dach und Fach war.

Noch ist es schwer vorstellbar, was die Besucher erwartet. Die Kuppel ist in 14 Zonen aufgeteilt, die bestimmten Themen gewidmet sind, wie Arbeit und Lernen, Geld und Kommunikation, Umwelt und der menschliche Körper, Glauben und Geist. Blair sagte, die Zonen müssen den „Euan-Test“ bestehen, also seinen Teenager-Sprössling Euan interessieren. Die Organisatoren versprechen ein multimediales Hightech-Erlebnis einer neuen Dimension. Kritiker befürchten, dass der Millennium Dome vor allem neue Maßstäbe der Kommerzialisierung setzen wird, denn die Sponsoren haben großen Einfluss auf die Gestaltung ihrer Zonen, Firmenlogos sind unübersehbar. Für die Darstellung der „nationalen Identität“ ist die nicht gerade blühende Kaufhauskette Marks & Spencer zuständig. Die anglikanische Kirche muss sich dagegen einen Stand mit anderen Weltreligionen teilen – sie wollte das Projekt nicht sponsern.

Kritik an der Jahrtausendkuppel ist nur noch leise zu hören. Die einstigen Gegner, wie die Daily Mail und der Evening Standard, dürfen das offizielle Informationsblatt produzieren, und Associated Newspapers, dessen Blätter anfangs ebenfalls skeptisch waren, macht eine vierseitige Beilage mit vielen gut bezahlten Anzeigen. Sky TV, der Sender des Medienzaren Rupert Murdoch, durfte ein Auditorium direkt neben der Kuppel errichten, nun sind die zum Murdoch-Imperium gehörenden Zeitungen voll des Lobes für den Dome.

Nur die Musikergewerkschaft ist erbost, weil zwar bei der Eröffnungsfeier in der Silvesternacht lebendige Künstler auftreten, aber für den Rest des Jahres 2000 gibt es Musik aus der Konserve. Das findet die Musikervereinigung schäbig, wo doch ansonsten überall geklotzt wurde. Der Schriftsteller Ian Sinclair hält das ganze Konzept für falsch. Die Kuppel sehe aus wie „ein verlorenes Ei, das von einem Veganer-Ausschuss entworfen worden ist“, konstatierte er und schlug vor, ganz London mit einer Kuppel zu überdachen.

Ursprünglich wollten die Tories den Millennium Dome nach ein paar Jahren wieder abreißen, doch nun bleibt er stehen, denn Tony Blair hat sich für ein dauerhaftes Monument entschieden. Die Baukosten für das Dach sind auf 12 Millionen Pfund verdoppelt worden, nun soll es mindestens ein Vierteljahrhundert halten, bevor es ausgebessert werden muss. Was aber aus der Kuppel wird, wenn die Jahrtausend-Show Ende nächsten Jahres vorbei ist, steht noch nicht fest. Es gibt neun rivalisierende Vorschläge: Die einen wollen eine virtuelle Welt mit „Dörfern der Nationen“, die anderen möchten ein Sportzentrum, damit London zur Weltsporthauptstadt wird und bessere Chancen bei der Bewerbung für die Olympischen Spiele hat. Oder soll aus der Kuppel ein Medienzentrum werden, ein tropisches Aquarium mit Titanic-Museum, ein organischer Park zur Förderung des Umweltbewusstseins oder einfach nur ein gigantisches Shopping Centre? In den nächsten Wochen muss ein Ausschuss drei Vorschläge auswählen, danach entscheidet die Regierung.

Von der Kuppel wollen viele profitieren. Jede Kneipe, jede Pizzeria und jede Curry-Bude in Sichtweite des Millennium Dome ist in der Silvesternacht ausgebucht – trotz Verdreifachung der Preise. Zehntausend ausgewählte Gäste dürfen in der Nacht der Nächte in die Kuppel hinein. Die meisten sind von Freunden und Nachbarn wegen „besonderer Leistungen im Dienste der Gesellschaft“ nominiert worden, hinzu kommen die Arbeiter, die den Dome gebaut haben, sowie die Angestellten der Sponsoren-Firmen. Eine Frau von 103 Jahren und ein Neugeborenes sind ebenfalls eingeladen. Kleidervorschriften gibt es nicht, denn es soll ja ein Labour-Volksfest sein.

Der Ablauf des Abends ist allerdings genau geregelt: Um sieben treffen die ersten Gäste ein, die Queen wird um zehn vor elf erwartet, gleich nach dem Premierminister. Um zehn Minuten vor Mitternacht erklärt Königin Elizabeth die Kuppel als eröffnet, danach singt ein Chor „A New Beginning“, komponiert von John Tavener, der bei Prinzessin Dianas Beerdigung für die angemessene Musik sorgte. Um Mitternacht läutet Big Ben, beim zwölften Glockenschlag singen alle „Auld Lang Syne“, den Hit des schottischen Nationaldichters Robert Burns, und auf der Themse wird eine 200 Meter hohe Flammenwand entzündet, die sich von Tower Bridge bis Vauxhall mit der Geschwindigkeit der Erdumdrehung voranbewegt. Unterdessen steigt im Millennium Dome die Jahrtausendshow, Einzelheiten sind noch geheim. Um zwei Uhr nachts ist alles vorbei, zum Schluss spielt das Orchester – mit königlicher Genehmigung – eine neue Version von „God Save The Queen“, der Nationalhymne.

Die Organisatoren sind auf alles vorbereitet: Die Kuppel verfügt auch über eine medizinische Abteilung, in der eine Kolonne Hebammen ab Mitternacht auf den Ansturm der Hochschwangeren wartet. Ann Kinnear, die Oberhebamme von Greenwich, rät dringend davon ab, die Millennium-Babys künstlich auf die Welt zu holen. „Dazu sollte man niemanden ermutigen“, sagt sie, fügt aber hinzu: „Wir sind darauf eingestellt.“