: Für uns beide
Sie hatte einen schlechten Tag. Sie kam nach Berlin. Am Bahnhof Zoo traf sie ein 14-jähriges Mädchen, das dort auf der Straße lebt ■ Von Klara
Ich hatte einen schlechten Tag. Irgendwie ging alles schief. Draußen war es kalt, ich hatte Hunger und musste pinkeln. Noch zwei Stationen, dachte ich, und sah meine Mitreisenden an. Irgendwelche Spießer, die zur Arbeit fuhren. Ich hasste sie, obwohl ich sie nicht kannte. Heute würde ich sowieso alles und jeden hassen. Die Fressen in dieser Scheiß-U-Bahn taten mir weh.
Falsch. Doch im Prinzip sind sie auch nur Besucher wie ich, Besucher dieser Erde. Und ich dachte, Scheiße, ausgerechnet jetzt bin ich dran. Bahnhof Zoologischer Garten. Ich musste raus. Ich mochte diesen Bahnhof und dann auch wieder nicht. Ich hatte in all den Jahren eine gewisse Hassliebe zu diesem Ort entwickelt. Es ist komisch, aber bei jedem Berlinbesuch war ich auch – als wäre es selbstverständlich – am Zoo.
Es war anders, als alle erzählten, aber trotzdem stimmte es. Dort existierte eine Untergrundwelt. Für sich. Allein. Unsichtbar für Normalbürger. Mich interessierte es total. Einerseits weil meine Gedanken den Gedanken der Menschen, die dieser Untergrundwelt angehören, ähneln und andererseits . . . darüber habe ich noch nicht nachgedacht.
Manchmal verstand ich mich als Weltverbesserer, der die Welt nicht verbessern kann. Traurig. Ich wählte den Ausgang Hardenbergplatz. Die Alkoholiker saßen wie immer neben dem U-Bahn-Eingang. Es hatte sich nichts geändert in den vier Monaten, in denen ich weg war. Traurig. Ich stellte mich schräg unter die Bahnhofsuhr und atmete diesen U-Bahn-Geruch bewusst ein.
Kurzer Schock. Ein Mädchen war an meiner Seite. Sie bettelte um etwas Geld, um sich etwas zum Essen zu kaufen – sagte sie. Ich wusste nicht, ob ich ihr glauben sollte. Ihre Augen sprachen Bände. Kleine Pupillen, starrer Blick – unheimlicher Ausdruck, schön. Traurig. Und ziemlich kalt. Melancholisch stimmte mich diese Situation. Ich hatte das Geld, das wusste ich. Ich wusste auch, dass ich ihr das Geld geben würde, wenn ich mir nur sicher sein könnte, dass sie sich etwas zu essen kauft, wie sie sagte. Ich sagte: „Komm, wir gehen zusammen, ich habe auch Hunger.“ Stimmte wirklich. Wir holten zwei Portionen Pommes, standen am Stehtisch und guckten uns an.Verhalten. Unsicher. Ich fragte sie nach Alter und Namen. Hatte zuvor meine Erwartungen bewusst heruntergeschraubt, um dann ein Glücksgefühl zu erleben. Sie war 14. Ich war 16. Mir tat mein Selbstmitleid vorhin in der U-Bahn leid, ich tat mir leid für mein Selbstmitleid.
Ich mochte sie. Sie war klug, sie war jung und auf dem Weg zum Tod. Traurig. Sie wusste es. Sie hatte schon oft versucht‚ runterzukommen. Nie geschafft. Traurig. Ich war hilflos, sprachlos und froh. Froh, mit ihr zu reden. Froh, zu sehen, sie freut sich, dass ich mit ihr rede. Sie sagte, sie hätte die ganzen letzten zwei Tage kein Wort mit jemandem geredet. Traurig. Wir standen lange am Tisch und sprachen miteinander. Ich übernahm nicht die Rolle der Überlegenen, der Besseren. Unsere Gedanken waren die gleichen, unsere Schicksale ganz verschieden. Sie hatte keine Hoffnung mehr. Ich war nicht mehr in der Lage, ihr Hoffnung zuzusprechen. Traurig. Sie wollte sterben, und sie wollte das so. Ich verstand das. Sie sagte, ich sei die einzige, die das versteht. Traurig. Wir standen lange Zeit im Regen, erzählten lange und waren froh darüber. Gemeinsam einsam, für ungefähr fünf Stunden, dann allein einsam – für den Rest des ganzen Lebens, für sie nur nicht mehr so lange wie für mich. Ich hatte nicht den Mut zu sterben. Traurig. Ja, wir waren traurig, waren in der Traurigkeit froh – froh, uns zu unterhalten. Besonders sie. Es ist wichtig, einem Menschen zu zeigen, dass er ein Mensch ist. Das tat ich. Und ich hatte dabei das Gefühl, selbst auch einer zu sein. So, denke ich, war es insgesamt ein schöner Tag. Für uns beide.
Ich heiße Klara, bin 17 Jahre alt und zur Zeit zu Hause, das heißt, ich gehe nicht zur Schule. Vor drei, vier Jahren fing eine Phase an, in der ich alles über Drogen und Abhängigkeiten wissen wollte. Das hat sich im Laufe der Zeit nicht auf diesen Bereich beschränkt, sondern weitete sich aus auf Obdachlosigkeit, Straßenkinderdasein, Armut etc. So bin ich auf „Zeitdruck“ gestoßen. Ich versuche mich in andere hineinzuversetzen.
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