: Handstand auf der Querlatte
TAZ-SERIE: DIE SPIELER DES JAHRHUNDERTS. FOLGE 9: DIE 00ER-JAHRE – Fritz Becker schoss1908 gegen die Schweiz das erste Tor für die „alldeutsche Auswahl“ ■ Von Jürgen Nendza
Viele Jahrhundert-Fußballer sind schon gekürt worden. Aber alle Juroren übersahen immer das Problem mit den Äpfeln und Birnen: Wer will ernsthaft Sandro Mazzola mit David Beckham vergleichen, welcher Maßstab soll für Toni Turek und José-Luis Chilavert gleichermaßen gelten oder für Omar Sivori und Hans Kalb? taz-AutorInnen bewerten Spieler in ihrem Umfeld und in ihrer Zeit. Streng objektiv, versteht sich, mit subjektiver Auswahl. Unsere Serie wird alle 10 Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts einzeln abdecken.
Athletische Allrounder waren sie allemal, unsere fußballbestiefelten Ururgroßväter, die sich in der ersten Dekade des auslaufenden Jahrhunderts anschickten, unter der Ägide des jungen und durchaus chaotisch agierenden DFB den Bürgersport Fußball gesellschaftsfähig zu machen. Das gelang nur mühsam und teilweise Kapriolen schlagend.
So sagt man dem turnverliebten Camillo Ugi vom VfB Leipzig nach, er habe sich vor den Spielen zuweilen zum Handstand auf der Querlatte hinreißen lassen, um dem Gegner zu imponieren. Oder der Klempner Paul Eichelmann, kleinwüchsiger, aber sprunggewaltiger Goalkeeper von Union 92 Berlin. Er galt als leicht reizbar und neigte zu cholerischen Ausbrüchen, die, wie es damals hieß, nur von seiner Frau gebändigt werden konnten. Weshalb man sie häufig ebenfalls aufstellte – als 12. Mann, hinter seinem Tor und regenschirmbewaffnet.
Alles Kandidaten zum Spieler der 00er-Jahre. Die Wahl soll indes auf den eher unspektakulären und mehrfach ausgezeichneten 100-Meter-Sprinter Fritz Becker (Kickers Frankfurt) fallen: pars pro toto für alle anderen Unspektakulären seiner Fußballergeneration. Allerdings, und das macht Fritz Becker unvergessen: Am 5. 4. 1908 schießt der damals 19-jährige Oberprimaner im „Länderkampf“ gegen die Schweiz in Basel das erste Tor der deutschen Fußball-Nationalelf.
Schon mit 16 Jahren kickt Becker fleißig auf der „Hundswiese“, sinnigerweise unter dem Decknamen „Penne“. Die hat nämlich ihren Zöglingen verboten, an öffentlichen Schaustellungen teilzunehmen, und dazu gehört ein jedes Sporttreiben im Freien. Zwei Jahre vor seiner Einberufung in die „alldeutsche Auswahl“ wird Becker tatsächlich wegen unerlaubter Teilnahme an einer 4x100-Meter-Staffel vom Schuldirektor zu drei Stunden Karzer verdonnert.
A propos „alldeutsche Auswahl“: Einen Bundestrainer gibt es noch nicht. Die Spielerauswahl nehmen die Landesverbände vor, machtränkelnd und nicht immer nach Verbandsproporz. So finden sich im April 1908 elf Spieler aus elf Städten zum Länderkampf in Basel ein, die meisten sind sich vorher noch nie begegnet. Naheliegend also, dass Geselligkeitsübungen das Gemeinschaftstraining ersetzen. So treffen sich am Vormittag des großen Spieltages die Angehörigen der Schweizer und der deutschen Ländermannschaft erst einmal zu einer gemeinsamen Stadtrundfahrt durch Basel. Fritz Becker ist von der „unübertroffenen Liebenswürdigkeit“ der Gastgeber entzückt, und beim abschließenden „Gläschen Bier“ werden aufs Engste neue Freundschaftsbande geknüpft. So eng, dass am Ende jede Partei unbedingt verlieren will.
Am Nachmittag säumen 5.000 Zuschauer den Baseler Sportplatz Landhof, einen als Fußballfeld deklarierten „Lehmboden“ (Berliner Tageblatt). Als sich dann gegen 15.10 Uhr ein Herr im piekfeinen blauen Straßenanzug und mit steifem Hut zum Anstoßpunkt begibt, halten Becker und Gefährten ihn für einen Festredner und harren seiner Rede. Vergeblich. Der Herr ist Schiedsrichter Dewitte, der in zeitgemäßer Sportkleidung Spielerführer Arthur Hiller (1. FC Pforzheim) zur Seitenwahl bittet. Nur fünf Minuten dauert es bis zum historischen 1:0. Fritz Förderer (Karlsruher FV) fälscht im Gedränge vor dem Schweizer Tor den Ball ab. Goalkeeper Dr. Dreifuss (Servette Genf) wähnt ihn bereits im Aus, doch 100-Meter-Mann Becker erspurtet das Leder kurz vor der Außenlinie und spitzelt es ins Schweizer Tor. 1:0 für Deutschland!
Doch auch damals ist Fußball schon mehr als 1:0, und nach knapp einer halben Stunde setzt mit der Wetter- auch die Spielwende ein. Erst hagelt es, dann regnet es Bindfäden, und für Becker ist es „erstaunlich, dass die Zuschauer trotz des dauernden Regens bis zum letzten Augenblick aushalten“. Die Eidgenossen siegen nach „hartnäckigem Spiel“ (Münchner Zeitung) mit 5:3 Toren.
Danach gibt es kontroverse Spielbewertungen. Nicht nur, dass das Ergebnis von 3:5 fast zwei Jahrzehnte in der DFB-Chronik in 2:5 umgeschrieben wird. DFB-Spielbeobachter Hugo E. Kubaseck notiert, dass „die Parteien sich mit 2:2 in die Ehren der zweiten Hälfte teilten“. Stimmt nicht, weiß Fritz Becker, zur Halbzeit führten die Schweizer mit 3:1. Ob Kubaseck das erste internationale Eigentor von Ernst Jordan (Cricket Magdeburg) zum 2:1 für die Schweiz heimlich der deutschen Mannschaft gutgeschrieben hat?
Bei der Ursachenforschung für die Niederlage gelangt das Fachblatt Football Suisse zu einem Urteil mit wahrhaftem Jahrhundertweitblick, das man derzeit dem DFB-Teamchef Erich Ribbeck nach jedem Länderspiel aufs Neue ins Stammbuch schreiben sollte: „Es fehlt der deutschen Mannschaft die für ein solches Wettspiel notwendige Begeisterung.“ Für weitere Wettspiele fehlt ihr aber auch Fritz Becker, denn trotz zweier Tore (er erzielte noch den Anschlusstreffer zum 3:4) war dies seine einzige Berufung als „Internationaler“.
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