: Das Einmaleins der Staffelsteiner
Ganz Deutschland spinnt im Millenniumsfieber. Nur eine oberfränkische Kleinstadt verweigert jedwedes Feiern. Wie Bürgermeister Baptist Faulstich dem Rechenmeister und Sohn der Stadt Adam Ries gedenkt ■ Von Jens Rübsam
Die Anleitung für seinen letzten großen Coup entnahm Baptist Faulstich, 62, einem alten Rechenbuch. Im Einmaleins des Adam Ries, erschienen vor mehr als vierhundert Jahren, fand der Bürgermeister der oberfränkischen Kleinstadt Staffelstein den entscheidenden Hinweis – dann gab er den Befehl zum Nichtstun aus. Noch nie zuvor hat sich ein deutscher Staatsdiener mit „Nichtstun“ derart hochgerühmt wie der Amtsherr Faulstich. Binnen Tagen hat er es fertiggebracht, Tatenlosigkeit im Rathaus zur Tugend zu erheben. Kein Bürger mault, Journalisten respektieren sein Verhalten, Wissenschaftler senden Grüße an den „geehrten Herrn Bürgermeister“. Was ist das Geheimnis des Baptist Faulstich?
„Der 31. Dezember 1999“, sagt Herr Faulstich, „ist für uns ein ganz gewöhnlicher Silvestertag. Und deshalb werden wir auch nichts tun.“ Sprich: nicht feiern.
Am Rande der tüteligen Kleinstadt Staffelstein reckt sich der Staffelberg 539 Meter in die Höh’, und gegenüber hockt das Kloster Banz, das immer dann in die Schlagzeilen gerät, wenn hier die CSU in Klausur geht und derbe Parolen ins Land sendet. Rings um Staffelstein ziehen sich 200 Kilometer markierte Wanderwege, und mitten in Staffelstein gibt es eine Therme, die so lustig sprudelt, dass Kindern unter zehn Jahren der Zutritt verboten ist. Es gibt ein Rathaus mit einer Sonnenuhr, die derzeit nicht funktioniert, und einen hübschen Marktplatz. Hier ist – gottlob – dieser Tage ein großes Missgeschick vereitelt worden.
Das Missgeschick: eine Millenniumsfeier. Der Verhinderer: Bürgermeister Faulstich. Der Grund: das Einmaleins.
Man sollte wissen, dass Adam Ries „um 1492“ in Staffelstein geboren wurde, und dass die Staffelsteiner mächtig stolz sind auf ihren Rechenmeister. Ein Museum haben sie ihm gewidmet. Eine Wirtschaft. Im Keller der Raiffeisen-Volksbank steht ein knarrender Rechentisch. Hier wird mit Rechenmünzen jedem erklärt, warum es heute nichts zu feiern gibt, jedenfalls keine Jahrhundertwende, schon gar keine Jahrtausendwende, kein Millennium.
Bürgermeister Faulstich sagt, man müsse „nur den Sachverstand einschalten“. Tut er das - „Ich war in der Handelsschule der Beste im kaufmännischen Rechnen“ - kommt er zu folgendem Ergebnis: „Wenn Sie 2.000 Gramm Wurst kaufen, dann sind die zwei Kilo erst erreicht, wenn das 2.000ste Gramm auf der Waage liegt. Nicht aber, wenn erst das 1.999ste Gramm aufgelegt ist.“ Die Schlussfolgerung: „Das neue Jahrtausend beginnt erst am 1. Januar 2001.“ Die logische Konsequenz: Herr Faulstich verweigert einer Millenniumsfeier auf dem Marktplatz die Genehmigung. Seitdem preisen ihn die Journalisten. Denn ganz Deutschland irrt - und spinnt.
Beispiel 1, Brandenburg: Ein „Millenniums-Sparbuch“ im Wert von 2.000 Mark lobt die Sparkasse Uckermark „für alle Kunden“ aus, die „am 1. Januar 2000 ein Baby bekommen“. Und im Standesamt Potsdam fragen Eltern nach, ob sie ihrem Kind wohl den Namen „Millennium“ geben dürfen.
Beispiel 2, Bayern: Im fränkischen Selb wird seit Wochen Porzellan für den weltgrößten „Millenniums-Polterabend“ gesammelt - obwohl sich gar niemand trauen lassen will. Zehn Tonnen sollen verscherbelt werden.
Beispiel 3, Rheinland-Pfalz: Mitglieder der Bad Dürkheimer Winzergenossenschaft wollen am Neujahrstag, elf Uhr, ihre Weinberge stürmen, die verbliebenen Trauben von den Stöcken lesen und daraus einen Jahrtausendwein kreieren. Inzwischen sah sich Justizminister Mertin gezwungen („dem Grundsatz der Wahrheit verpflichtet“), ein Schreiben herauszugeben. „Ich bedauere zutiefst, Ihnen mitteilen zu müssen, dass der gepriesene Jahrtausendwechsel nicht in der Nacht von Freitag auf Samstag stattfindet“.
Die Staffelsteiner werden heute ruhen wie die Betagten in einem Altersheim – das ist Faulstichs letzter grosser Coup. Im Februar zieht der Bürgermeister in Rente. Es heißt: Eine Feier soll es geben.
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