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Leben ohne Sinn ■ Die Katastrophe ist ausgeblieben
Es wäre auch zu schön gewesen. Lustvoll haben wir die angekündigte Katastrophe erwartet, den globalen Computerabsturz zu Silvester. Das chaotisch organisierte System weltweiter Vernetzung hätte sich einfach selbst überlistet. Ein letztes Mal hatte sich eines jener globalen Katastrophenszenarien aufgebaut, die noch in den Achtzigerjahren das Leben so schön einfach gemacht hatten.
Damals wuchs eine ganze Generation in der Gewissheit heran, ihre volle Lebensspanne nicht mehr auskosten zu können. Als wahrscheinlich galt, dass ein Atomkrieg der beiden Supermächte jedes Leben zumindest in Europa zerstören würde. Wahrscheinlich bringe die Kraft moderner Sprengköpfe gar die Erdkruste zum Bersten, erläuterten die Lehrer im Fach Gemeinschaftskunde.
Aber auch ohne Krieg war der Untergang nah. Die Atemluft, so glaubten viele, würde durch das rasant fortschreitende Waldsterben bald versiegen. Verängstigte Schüler sahen sich selbst in Comic-Heftchen mit der Perspektive konfrontiert, sie müssten den Sauerstoff künftig in Flaschen mit sich führen.
Selbst für den Fall, dass die Umwelt noch eine Weile durchhält, hatten die Untergangspropheten vorgesorgt. Die weltweiten Erdölvorräte, so hieß es, seien etwa im Jahr 2010 erschöpft. Die „Nach-Öl-Zeit“ schien greifbar nahe – und das Atomkraftwerk als einzige Alternative führte geradewegs in die nächste Katastrophe.
Gerade diese Katastrophenszenarien waren es, die die Achtziger zum Jahrzehnt der großen Sorglosigkeit gemacht hatten. Die Hoffnung auf den schnellen Weltuntergang hatte etwas Erlösendes. Der Glaube an die Apokalypse war für die weitgehend sorgenfreie Wohlstandsgesellschaft der alten Bundesrepublik zur neuen Religion geworden.
Die krisengeschüttelten Neunziger brachten eine bittere Erkenntnis: So bald wird die Welt nicht untergehen und schon gar nicht kurz und schmerzlos. Bevor es zur ganz großen Katastrophe kommt, warten zuerst einmal ganz banale Probleme. Der Rest ist Durchwursteln. Das ist bitter, und es macht das Leben sinnlos: Darin besteht das wahre Jahr-2000-Problem. Ralph Bollmann
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