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Total frustierte junge Männer über sich

Gründeln über die eigene existenzielle Sinnlosigkeit im Spiegel wenig beachteter Emigrantenromane ■ Von Helmut Höge

Die seit 1989 anschwellende „Welle“ von Emigranten aus Osteuropa hat bereits zu einer eigenen Emigrantenliteratur geführt. Entweder schreiben diese meist jungen „Polen“ und „Russen“ auf Deutsch oder ihre Texte werden von Freunden übersetzt. Beispielsweise Christoph Maria Zoluski. Er arbeitet für einen Frankfurter Verlag an einer Anthologie junger in Deutschland lebender polnischer Autoren. Sein eigenes Buch „Das Bodensee-Tryptichon“, das in Polen viel Beachtung fand, wurde zwar inzwischen ins Deutsche übersetzt, hat jedoch noch keinen Verleger hier gefunden. Die ebenfalls inzwischen in Süddeutschland lebende russisch-jüdische Literaturkritikerin Olga Mannheimer gab ihm gegenüber nach der Lektüre zu bedenken, dass seine Offenherzigkeit den Neonazis Munition für ihre Ausländerfeindlichkeit liefern könnte.

Dies ließe sich auch über die zwei jüngst erschienenen Romane von Dariusz Muszer: „Die Freiheit riecht nach Vanille“ und von Timur Litanischwili: „Beichte eines verrückten Emigranten“ sagen.

Die beiden jungen Autoren Muszer (geboren 1959 in Westpolen) und Litanischwili (geboren 1966 in Moskau), kamen ebenfalls 1989 bzw. 1988 nach Deutschland. Muszer lebt in Hannover, Litanischwili in Berlin. Von gelegentlichen Jobs (als Abwäscher oder Werbezettelverteiler) abgesehen, beziehen sie Sozialhilfe. In depressiven Phasen sehen sie sich als Versager und Sozialschmarotzer. Die Absicht und das Vermögen, ein Buch über sich und ihren Lebenswandel zu schreiben, werden von ihnen mehrmals thematisiert. Timur Litanischwili hat dem Verlag anschließend sogar den Druck bezahlt: 2.800 Mark. Er bereut es inzwischen. „Die tun nichts, um es zu verkaufen. Ich habe ein gutes Produkt abgeliefert“, meint er, obwohl es nur eine zensierte Fassung ist: „Meine in Berlin lebende Schwester und meine Mutter hatten es zuerst gelesen und waren schockiert gewesen, ich habe deswegen die härtesten Seiten rausgeschmissen.“

Reden mit einem Leidensgenossen

Beide Autoren kämpfen mit der Sinnlosigkeit. Den einen überfällt sie in der Hannoveraner Einkaufs- und Pennerzone „Passerelle“, der andere geht überhaupt den Menschen aus dem Weg, höchstens dass er mal kurz im Prenzlauer Berg einen Puff besucht, wenn er das Geld dafür hat. Ansonsten haben beide verwickelte Onaniertechniken entwickelt. In ihren Büchern reden sie bisweilen mit einem Leidensgenossen, der ihnen – als letzter „Freund“ – verblieben ist. Insbesondere Litanischwili leidet darunter, dass Emigration und Armut ihn hier so unattraktiv machen, dass „die Frauen“ ihn eher meiden. Seine Enttäuschung richtet sich vor allem auf sie. Das trifft sich mit der Beobachtung vieler Prostituierter, dass die überwiegende Mehrzahl der Männer aus reinem Hass auf Frauen ein Bordell aufsucht. Muszer schildert eine Szene, in der seine von ihm später getrennt lebende Frau nach einem Streit weinend ins Nebenzimmer zu der gemeinsamen Tochter geht, die ebenfalls weint: „Ein Gedanke huschte mir durch den Kopf: Wenn zwei weinen, hört sich das gar nicht so schlecht an. Ich war wirklich ein Arschloch.“ Litanischwili schreibt: „Es stellte sich heraus, dass ich mein ganzes Leben lang alle Leute verscheißert hatte.“

Aber darum geht es den beiden Autoren gerade: die ganze Arschlochhaftigkeit ihrer Existenz herauszuarbeiten – ohne dabei Deutschland etwas zu schenken! Keine Peinlichkeit bzw. peinigende Wahrheit wird ausgelassen. Im Gespräch mit einem Beamten des Durchgangslagers Friedberg kommt es zu folgendem Dialog: „Nervös? Ungeduldig? Sie wollen doch rein.“ „Wie bitte?“ „Sie wissen schon, was ich meine. Sie wollen doch bei uns bleiben. Warum also machen Sie es sich schwerer, als es nötig ist?“ Die Frage dieses deutschen Beamten drängte sich beim Lesen der beiden Bücher auf.

Die Weihnachtszeit war voll im Gang: „Eine gute Zeit für Straßenmusiker und Warenhausbesitzer. Eine schlechte für frisch gebackene deutsche Arschlöcher wie mich“, schreibt Muszer aus Hannover. Es macht vielleicht gerade den Wert der Bücher aus, dass sie damit ihrem flüchtigen Leben auf den Grund gehen wollen, auch wenn es wahrscheinlich völlig grundlos ist. „Sie sind ein kleiner Spinner, der keine Ahnung hat, was er eigentlich mit seinem Leben anfangen soll“, vermutet denn auch ein psychologisch geschulter Hannoveraner Kriminalbeamter bei Muszer. Litanischwili nimmt regelmäßig Psychopharmaka – gegen Depressionen und Aggressionen: Maprotilin, Dogmatyl. „Wenn du wüsstest, was für einen Stellenwert du bei mir hast“, diese Worte seiner Psychologin gingen ihm schließlich ins eine Ohr rein und beim anderen wieder raus. Man müsste mehr herumreisen – in andere Länder: „Vielleicht könnte man sich dort leichter adaptieren“, überlegt er, hier „wollen mich alle zwingen zu arbeiten.“ Und jeder Tag beginnt mit „Träumen von einer Frau ... Mutterseelenallein nahm ich einen Stift in die Hand und schrieb ganz schnell mein böses, böses, bitterböses Büchlein, für das ich einen dicken, dicken Packen grüner Dollars bekommen würde, und für diese Dollars würde ich schöne, wunderschöne Frauen vögeln ... Das Hauptthema meiner Gedanken ist mein Schicksal, das es nicht gut mit mir meint.“ Dariusz Muszer kommt nach einem vergeblichen Vorstellungsgespräch zu dem Urteil: „Deutlich und am eigenen Leib spürte ich, wie schwer es ist, in Niedersachsen ein Mann zu sein ... Mich kann man doch nicht lieben, mich kann man nicht begehren! Es reicht, wenn man sich mein aufgedunsenes Gesicht oder meinen riesigen Bauch ansieht, ganz zu schweigen von meinem kleinen Pimmel.“

Rache-, Gewalt- und Heldenträume müssen das lädierte Selbstbewusstsein heilen. „Brennende Menschen liefen schreiend durch die Straßen und flehten um Gnade. Ungeduldig hielt ich den Finger am Drücker des Flammenwerfers“, berichtet Muszer. Litanischwili lässt die Presse über sich berichten: „alle Prostituierten von St. Pauli sind gleichzeitig gekommen. Es war eine virtuose Leistung des Piloten, der es schaffte, die ganze Reeperbahn auf einer Höhe von sieben Metern zu überfliegen und keinen Lebenden Leid anzutun.“ Die Berliner Psychologin Helgard Passow meint, dass besonders unter ihren männlichen Patienten das Gefühl existenzieller Sinnlosigkeit in erschreckendem Maße um sich greife.

Gewaltträume fürs Selbstbewusstsein

Ein weiterer Autor – in diesem neuen Genre Emigrantenliteratur: Der heute in Salzburg lebende Vladimir Vertlib (geboren 1966 in Leningrad) – versuchte dem dadurch zu entkommen, dass er sein Jüdischsein betont. Er hat bereits mehrere Texte auf Deutsch geschrieben. In seinem Buch „Zwischenstationen“ schildert er die Odyssee seiner Familie – von Wien nach Israel, Italien, USA und wieder zurück nach Wien: „Die Prozession zum Bahnhof hatte ihre ritualisierte Ordnung.“ Lange mochte er sich dabei nicht von seinen Kinderbüchern trennen: Sie erzählten „von der heilen Welt der jungen Pioniere ... oder den Heldentaten von Revolutionären. Zwar wusste ich damals schon sehr wohl, dass es eine erfundene, ja erlogene Welt war ... Der Partisanenjunge, der fast im Alleingang eine ganze deutsche Division gefangen nahm, war trotz allem mein Vorbild.“ Dennoch ist er – mehr als Muszer und Litanischwili – „ein Träumer und kein Kämpfer“, wie sein Vater es einmal ausdrückte. Während einer der vielen nächtlichen Fahrten im Zug erzählte der Vater ihm von der herrlichen Zukunft, die ihnen im nächsten Einreiseland blühen werde. Dabei wurde er immer euphorischer, trotz seiner Müdigkeit. Vertlib koloriert seine grauen „Zwischenstationen“ mit jüdischem Humor, wodurch er sich biografisch zwischen Über- und Unteridentifikation ausbalanciert. Dieses erzählerische Gefühl für Gleichgewicht ist den beiden Angry young Men Muszer und Litanischwili fremd, sie hauen lieber auf den Putz. Dennoch haben die Bücher dieser drei jungen Emigranten aus Osteuropa vieles gemeinsam. Und man weiß nicht: Bereitet sich eine Höllenmaschine vor oder schmiert sich ein folgsames Räderwerk ein?

Die Jungen darin wollen kein Opfer sein, sie wollen Tatmenschen, Täter sein.„Nein, mein Buch ist keine Kunst, keine Literatur,“ sagt – der „Südländer“ – Timur Litanischwili: „das ist eine Bombe, die früher oder später explodieren wird. Da bin ich ganz sicher.“Dariusz Muszer: „Die Freiheit riecht nach Vanille“. A1-Verlag München 1999, 216 Seiten, 34 DM. 1996 erschien bereits sein Buch „Zwischen den Linien“.Timur Litanischwili: „Beichte eines verrückten Emigranten – im Banne der ‚Maja‘ “. Übersetzt von Holger Lange. Edition Amadis Berlin 1998, 144 Seiten, 24,80 DMVladimir Vertlib: „Zwischenstationen“. Deuticke-Verlag Wien 1999, 294 Seiten, 34 DM. 1995 erschien bereits sein Buch „Abschiebung“.

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