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Hier gibt's Kultur, Baby!

■ Du und Deine Sender 1: In einer neuen Serie hören wir das komplette Radio-Programm in der Bremer Region an. Am Anfang der Betrachtungen steht Radio Bremen 2, das Kultur- und Bildungsprogramm des kleinsten ARD-Senders

Nie war so viel Radio wie heute. Während sich SchülerInnen vor 20 Jahren noch mit einer Stunde „Musik für Junge Leute“ begnügen mussten, können die Kids der Jetztzeit in der Bremer Gegend gleich zwei Jugendwellen empfangen. Für die älteren Semester gibt's mit NDR 1 oder Radio Bremen 3 „Melodie“ ebenfalls zwei Programme. Und die angeblich kaufkräftigen 20- bis 40-Jährigen werden mit mindestens fünf Programmen bestrahlt. All das hören wir uns jetzt mal genauer an: In straffer Folge sausen wir die Skala rauf und nehmen jeden einzelnen Sender unter die Lupe. Den Auftakt macht das Kulturprogramm Radio Bremen 2.

Auch ohne eine ausgesprochene und entwickelte Vorliebe für klassische Musik, live gespielten Jazz oder Literaturlesungen kann regelrecht verzweifeln, wer auf das Radio zurückgeworfen ist. Und wer beispielsweise nur mit einem Radio und ohne CD-Player zu einer längeren Autofahrt verdonnert ist, muss mindestens einmal in der Stunde Phil Collins oder Schlimmeres ertragen, wenn es das überhaupt gibt. Der Rest besagter Stunde ist nur unwesentlich erfreulicher. Und wenn der computergenerierte Mix aus Charts und Hitparade unterbrochen wird, dann durch Werbung oder eitles Geplauder.

Die vom Meer aus Profanität, Scharlatanerie und Gute-Laune-Gesinnungsterror schmerzgekräuselten Trommelfelle glätten sich langsam, das hektische Gekurbel oder Weiterdrücken am Sendersucher endet unter erleichtertem Seufzen darüber, dass er eines der letzten Refugien aussterbender Sendeformen gefunden hat, wenn eine tiefe, beruhigende Stimme „Musik auf schwarzen und weißen Tasten“ ansagt oder den „wolkigen Kranich“, wenn der Pianist Alfred Brendel über seine Gedichte spricht oder ein Beitrag von einem „Tummelplatz privater Ranküne“ zu berichten weiß und „Hartnackigkeit“ sagt, weil es ja wohl von Nacken kommt. Dann hat mensch Radio Bremen 2 (RB2) gefunden, wo sich das BildungsbürgerInnentum von seiner besten Seite zeigt.

Hier wird noch auf die eine, die wirklich gute Büchner-Ausgabe gewartet. Hier interessiert sich noch jemand dafür, wenn der Bamberger Soziologe Gerhard Schulze in seinem neuen Buch fragt: „Wo ist das Ich hinter all den Maskeraden?“ und es glatt für „eine erstaunliche Frage“ hält. Und im Journal-Rätsel wird nach dem Maler Max Pechstein gesucht. Für das Jahr 2000 orakelten die Kollegen Zotta und Köster, dass RB2 zwei seiner fünf HörerInnen verliert. Es waren aber mindestens acht, die mit Vorschlägen wie Emil Nolde, Wilhelm II und Kandinsky an der Frage scheiterten. Klar, wenn bei Daimler in der Werkhalle so was liefe, würde die Belegschaft meutern. Hier gibt's Kultur, Baby! Bei RB2 macht mensch eher den Abwasch oder oder sowas. Wer möchte sich schon auf dem knapp errungenen Arbeitsplatz gefährden, indem er seine Aufmerksamkeit Beiträgen über „Polen, den Winter und die Angst vor dem Verbrechen“ oder der definitiven Einführung des metrischen Systems in Großbritannien zum 1. Januar widmet?!

„Who knows where the time goes?“ Wer weiß, wohin die Zeit geht, singt Sandy Denny, und der Moderator antwortet: „Ich würde sagen, vorwärts.“ Und dass sie allem Anschein zum Trotz auch auf RB2 nicht stehengeblieben ist, beweisen Sendungen wie die JazzZeit mit einem Weilheimer Sextett namens „Tied & Tickled Trio“, das mit einer neuartigen Mischung aus Jazz, Elektronik und der Gitarrenvergangenheit einiger seiner Mitglieder Furore gemacht hat. Oder wenn Rolf Kirschbaum neben grandios durchgeknallten King-Crimson-Aufnahmen die neue Platte von Sonic Youth auflegt.

Die Zeiten, in denen Leute wie der BBC-DJ John Peel eine Stunde in der Woche spielen durften, was immer sie wollten, und diese Freiheit benutzten, um hintereinander fortschrittlichsten Krach und obskurste Folklore zu spielen, sind offenbar vorbei. Allwöchentliche Nischenprogramme für Freunde abseitiger Musik haben die ihnen bereits vor ein paar Jahren aufgezwungenen Rückzugsgefechte meist verloren, und die Sendeanstalten sind bekanntlich mit ihren Reformplänen niemals fertig. RB2 ist mit archaischen Formaten wie dem Essay, mit klassischer Musik und Jazz ein rares Refugium und wohl eher in seiner Existenz gefährdet, als die Hitradios dieser Welt. Wehe den einsamen AutofahrerInnen ohne CD-Player, sollte eines Tages auch noch dieses Eiland der Seligen den Phil Collins oder den Oli P.s dieser Welt und ihren Ausstrahlungsverwaltern zum Opfer fallen! Andreas Schnell

Radio Bremen 2: Ukw 88,3 Mhz, 92,1 Mhz in Bremerhaven

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