: Spieglein an der Wand
Ein neues Jahrtausend ist angebrochen, und eine Frage bestimmt diesen Neuanfang: Wie wird die Zukunft aussehen? Verlässliche Prognosen sind selbst von Experten nicht mehr zu erwarten – zu vielgesichtig, zu komplex gestaltet sich die Lebenswirklichkeit. Zwischen privater Individualisierung und gesellschaftlicher Diversifizierung erhält der Ruf nach Führung neuen Auftrieb. Ein Essay von Frank E. P. Dievernich
Kurz nach der Jahrtausendwende scheint die Frage nach der Zukunft das entscheidende Problem unserer Gesellschaft zu sein. Keine Sendung in TV oder Radio, keine Zeitung, kurzum: kein Medium des öffentlichen Lebens kann auf diese Frage verzichten. Dass das Internet da in nichts zurücksteht, ist selbstverständlich. Im deutschsprachigen Raum kann man sich unter anderem bei www.Zukunft.de über die Zukunft informieren. In Anbetracht dieser auffälligen Zukunftseuphorie spielt es keine Rolle mehr, ob in diesem Trend der gesellschaftliche Wunsch nach Zukunft widergespiegelt wird oder ob die Medien ein Thema für die Gesellschaft erst generieren – oder ob sich gar die Konkurrenten dieser Branche gegenseitig aufschaukeln, derweil die Gesellschaft der Prognosen müde wird. Fakt scheint zu sein, dass es einen Markt für die Produktion solcher Szenarien gibt.
Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied zu früher. Waren es einst eher generelle Aussagen, die über die Zukunft der Gesellschaft getroffen wurden, so haben wir es nun mit einer Spezialisierung auf diesem Gebiet zu tun. Nicht nur die Gesellschaft hat sich ausdifferenziert, auch der Markt der Vorhersagen zeichnet sich durch seine starke Spezialisierung aus. Zu denken ist beispielsweise an Prognosen für die Entwicklung spezieller Regionen, an die Entwicklung bestimmter Märkte, wie dem Finanzmarkt oder noch spezieller dem Aktienmarkt, die Entwicklung bestimmter Musikrichtungen, bestimmte computerunterstützte Kommunikationsformen, die Entwicklung besonderer Techniken, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Bei all diesen Entwicklungen handelt es sich um Diskurse von Experten, die über einen relativ engen Raum der Gesellschaft sprechen. Sie alle sind mit dem Risiko und der Schwierigkeit behaftet, dass es einem erst gar nicht gelingt, hinein zu gelangen und sich als Amateur zu outen.
Gehört man aber zu dieser Gemeinschaft, so offenbart sich ein ganz anderes Problem. Wollen diese Experten wirklich gute Prognosen der Zukunft für ihren Bereich geben, so müssen sie Ahnung von anderen gesellschaftlichen Feldern haben, da die Entwicklung des eigenen Bereichs immer auch von der Entwicklung anderer gesellschaftlicher Fragen abhängig ist. Wie aber können sie über ein solches Wissen verfügen? Die Antwort ist einfach und ernüchternd: gar nicht. Sie können nur durch die Beobachtungslogik des eigenen Bereiches, dem sie verhaftet sind, andere gesellschaftliche Felder nach Informationen absuchen. So sieht beispielsweise der Unternehmer die Umwelt als Ansammlung von potenziellen Märkten und Kunden an, während der Ethiker, kopfschüttelnd, nur Menschen sieht. Dieser Mechanismus der Beobachtung produziert aber systematisch die Lücken, die es zu umgehen gilt, sodass nahezu jede Expertenprognose laienhaft wird.
Der Pferdefuß an der Sache ist offensichtlich: Jede Prognose schielt auf die Voraussagen der anderen, sodass die Prognose des einen die des anderen stützt und mehr und mehr Analysen von Laien sich in die Vorhersagen der Experten einschleichen. Wer Experte ist und wer Laie, ist nicht mehr auseinander zu halten, es sei denn, man glaubt den Etikettierungen auf den veröffentlichten Prognosen. Was dadurch aktiv geschaffen wird, ist in der Tat eine Zukunft, die weder so ist, wie sie prognostiziert wird (allenfalls sind ex post bestimmte Wiedererkennungseffekte vorhanden), noch so, wie sie hätte werden können.
Qua Definition wäre die Soziologie das Fach, welches sich als Experte ansehen müsste, die Entwicklung der Gesellschaft zu prognostizieren. Sie könnte man als die spezialisierte Generalistin ansehen. Das wäre aber des Guten zu viel, da sich selbst diese Disziplin ausdifferenziert hat, sodass wir es hier mit Wirtschaftssoziologen, Familiensoziologen und Kunstsoziologen zu tun haben. Auch der Soziologie scheint nichts anderes übrig zu bleiben, als sich in die Schlange der laienhaften Experten einzureihen. Dennoch könnte es Hoffnung geben, wenn man den Soziologen als Experten von Beobachtungen zweiter Ordnung ansieht.
Das kann als die Leistung wiederum zweier ausdifferenzierter Theorien im Bereich der Soziologie und der Philosophie angesehen werden: Systemtheorie und Konstruktivismus. Die Namen dazu sind unter anderen Niklas Luhmann und Heinz von Foerster. Entscheidend ist nun die Frage, was jemand beim Beobachten nicht sieht. In den Theorien spricht man in diesem Zusammenhang vom blinden Flecken eines Forschers. Die „Beobachtungsspirale“ kann ins Unendliche gedreht werden: Beobachten, wie die anderen beobachten und gleichzeitig beobachten, wie die anderen einen dabei beobachten, wie man sie beobachtet.
Bezogen auf die verschiedenen Beobachtungsversuche der Zukunft bleiben zwei Optionen offen. Zum einen können die unterschiedlichen Prognosen der jeweiligen gesellschaftlichen Felder auf das hin abgesucht werden, was sie nicht berücksichtigen, wenn sie Prognosen aufstellen. Das scheint aber der bislang gängige Weg vieler Prognosen zu sein, die sich in einem Wettbewerb gegeneinander befinden. Die andere Möglichkeit ist so trivial, dass sie nicht mehr gesehen wird. Vielleicht ist sie gerade deshalb überraschend. Sie führt die Prognosen wieder ein; diese aber auf einer Metaebene, die aber sicher eintreffend ist! Nur ein Beobachtungsspezialist „zweiter Ordnung“ kann dies tun. Dabei ist es unerheblich, ob er Soziologe, Philosoph oder was auch immer ist. So kann die Prognose für eine Zukunft nur lauten, dass der Mensch auch in der Zukunft ein soziales Wesen à la Max Weber und Emil Durkheim bleibt, dass Kommunikation das einzige ist, auf das er bauen kann, und dass er ständig verpflichtet ist, zu beobachten.
Das mag die Zunft der Zukunftsforscher wahrlich nur schwer zufrieden stellen, da sie vor allem auf die Formen dieses Sozialen gucken. Gleichzeitig wird aber die Grenze dessen aufgezeigt, was durch Vorhersagen möglich ist. Zukunftsfähigkeit wird nur bewahrt, indem man eben nicht die Zukunft vorhersagen kann; Freiheit wird dort belassen, wo sie als einziges sein kann: in einem Raum, der nicht (vor-) strukturiert ist – eine Illusion, da jede Kommunikation bereits an etwas Bestehendes anschließt und somit alles vorstrukturiert ist.
Der Bereich des Nichtwissens, um mit dem Trendguru und Kommunikationstheoretiker Norbert Bolz zu sprechen, scheint der einzige Raum wirklicher Freiheit zu sein. Poetischer drückt es der Ökonom Helmut Dietl aus: „In einer vorherbestimmten Zukunft wird die Freiheit des Menschen zur Illusion – ein Zusammenhang, der bei jeder Suche nach neuen Knospen bereits verblühter Träume ins Bewusstsein gerufen werden sollte.“ Freiheit wäre dann, nichts mehr über Zukunft zu sagen. Wie ist also die Frage nach Zukunft an sich zu beurteilen? Unsere Annahme ist, dass sich anhand dieser Frage – wider unsere bisherigen Ausführungen – doch ein genauerer bezeichenbarer Trend für die Zukunft feststellen lässt: Die Abkehr von und gleichzeitige Zuwendung hin zu einem Führer.
Glaubt man Thomas Palzer, der im Vorgriff auf die Veröffentlichung „Hundert Wörter des Jahrhunderts“ des Suhrkamp Verlags in der Süddeutschen Zeitung den Begriff des Führers vorstellte, so handelt es sich um einen Zentralbegriff des vergangenen Jahrhunderts. Gedacht wird dabei sofort an Hitler und ähnliche Figuren des Bösen, wie Stalin und Mussolini. Zweifel steigen in einem auf bei der Begrenzung dieses Begriffes auf das 20. Jahrhundert, da mittlerweile auch Figuren wie Napoleon und Cäsar gerne als Führer dargestellt werden. Vielleicht sind es aber gerade die Beobachtungen des zu Ende gegangenen Jahrhunderts, die Personen aus vergangenen Tagen ex post „ausschließlich“ als Führer charakterisieren. Dennoch steht das Wort Führer, wie kaum ein anderes, für dieses Jahrhundert. Das gilt vor allem für das allein stehende Wort ohne direkte Verbindung zu einer Person. Scham ist mit diesem Begriff verbunden.Es gibt aber noch ein anderes Argument, was in Verbindung zu dem Wort Führer steht. Es ist nicht das ausgesprochene Wort, als vielmehr der stille Wunsch, Geführter zu sein. Das steht aber im krassen Widerspruch zu einem anderen Wort, vornehmlich auftauchend zum Ende des Jahrhunderts hin: Individualisierung. Glaubt man dem Soziologen Ulrich Beck, dann befinden wir uns in einem anhaltenden Prozess der Individualisierung, der sich durch die von der Gesellschaft losgelöste Möglichkeit für das einzelne Individuum darstellt, Gesellschaft als Sammelsurium, als Baukasten für die Elemente des „eigenen Lebens“ zusammenzustellen.
Die Grenzen in der Entwicklung eines Menschen liegen in ihm selbst. Der Mensch ist der Unternehmer seiner selbst – losgelöst von Strukturzwängen, entlassen aus dem Raum des Sozialen. Die Folgen einer solchen Entwicklung liegen auf der Hand. Es entsteht für das einzelne Mitglied der Gesellschaft ein nicht mehr zu überblickender Raum. Die Komplexität der Gesellschaft steigt ins Unermessliche. Die Folge davon ist, dass der Wunsch nach einem Führer an bestimmten Stellen und zu bestimmten Zeiten in der Gesellschaft lauter wird. Der Führer als jemand, der die Komplexität auf ein bearbeitbares Maß reduziert.
Zu sehen ist dieser Drang bereits heute in der Politik. Hier wünscht man sich den omnipotenten Kanzler, den alles überblickenden Lenker, der sagt, wohin die Reise geht, und der die Probleme – alle für sich, so als wären sie voneinander abgekoppelt – löst. Versuche, Kompromisse zu erzielen, werden mit erdrutschartigen Wahlergebnissen kommentiert. Experimentieren ist in Zeiten, da der Führer nicht in Sicht ist, nicht gefragt. Experimentieren steigert die Nervosität derer, die die Glückseligkeit der Einfachheit bevorzugen. Fragt sich nur, um welchen Preis die zu haben ist.
Darin liegt auch wohl der Grund, warum nach der Wahl Gerhard Schröders zum Bundeskanzler in deutschen Innenstädten bald wieder Helmut-Helmut-Rufe erschallten. In der Politik wenden sich die Bürger ab und wählen schließlich gar nicht mehr oder – und das ist „natürlich“ so – sie wissen alles besser; das aber immer nur im System des Privaten. Ohnmächtig wird der Mensch ins Privatleben, in die Überreste seiner Individualisierung entlassen. Im persönlichen Leben, im Erleben der eigenen Lebenswelt, will man selbst der Führer seiner selbst sein. Hier will man die Chance ergreifen. Worte wie Selbstorganisation, Selbstbewusstsein, Selbstverantwortung machen die Runde. Das ist am deutlichsten in der Arbeitswelt zu spüren, wo selbst organisierte und selbst gesteuerte Gruppenprozesse losgetreten werden. Vor allem die Pädagogik versucht immer wieder Organisationsformen zu gründen, in denen sich der Mensch selbst erziehen soll.
In dem Maße, wie auf der einen Seite die individuelle autonomisierte Beobachtung von sich und der Gesellschaft möglich ist, steigt die Komplexität des Gesamtsystems, weil mehr denn je die unterschiedlichen Beobachtungen darum wetteifern, in der gesellschaftlichen Kommunikation wahrgenommen zu werden. Im Privaten ist jeder sein eigener Führer, in der Gesellschaft wünscht er sich unter einen Führer. Die Zukunft wird zwischen diesen beiden Polen oszillieren.
Wo die Frage nach der Zukunft an sich zu verorten ist, wird nun klar. Sie ist Zeichen für den Wunsch, geführt zu werden, Zeichen für den Wunsch von der nicht mehr überblickbaren Komplexität und deren Druck auf den Einzelnen erlöst zu werden. Wenn die Komplexität der Gegenwart nicht mehr zu überblicken ist, dann wenigstens die der Zukunft.
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