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Ein altgedienterKlassiker geht ins Netz

Ein Reprint von einem Lexikon, dessen erste Bände vor fast hundert Jahren erschienen – ist das nicht ein Anachronismus im Zeitalter von Digitalisierung und Datenüberfluss? Nicht unbedingt, zumindest im Fall des Künstlerlexikons „Thieme-Becker-Vollmer“. Die Geschichte eines Erfolgsprojekts, das im Kaiserreich begann, später der DDR Devisen und Renommee bescherte und das heute für den Einsatz auf internationalen Datenautobahnen ausgebaut wird von Reinhard Krause

Von morgens bis abends ordnete Hans Vollmer verstreute Informationen aus Ausstellungskatalogen, Kunstzeitschriften, Künstlerviten und Lexika zu streng gegliederten Künstlerbiografien, exzerpierte, systematisierte, diktierte. Und nach einem langen Arbeitstag, heißt es, suchte er noch Büchereien auf, um weiteres Quellenmaterial zu erschließen. Bis von der Büchereiverwaltung die Beschwerde einging, „ein Herr Vollmer habe bei Schließung des Lesesaales um 22 Uhr nur nach mehrfacher Aufforderung zum Verlassen der Bücherei bewegt werden können“.

Wer kann, wer will sich das heute noch vorstellen: ein ganzes Berufsleben umgeben von nichts als Bücherbergen, Zettelkästen und Ablagesystemen? Noch dazu, wenn sich die Arbeit ausschließlich und immer nur um einen allgemein mit Sinnlichkeit assoziierten Bereich wie die Kunst dreht. Doch der promovierte Kunstwissenschaftler scheint die Arbeit am „Allgemeinen Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart“ – nach den Namen seiner Herausgeber Ulrich Thieme und Felix Becker kurz „Thieme-Becker“ genannt – regelrecht geliebt zu haben. Und der lang anhaltende Erfolg gibt ihm Recht: Gerade ist das Lexikon als 25-bändige Studienausgabe neu aufgelegt worden. Zum letzten Mal?

1907 war der damals 28-Jährige in den Leipziger Redaktionsstab berufen worden. Die Arbeit an diesem Mammutwerk sollte für Vollmer, der 1922 die Redaktionsleitung übernahm, erst nach mehr als einem halben Jahrhundert beendet sein: Im Jahr 1960 erschien der letzte Band dieses bis heute ehrgeizigsten unter den abgeschlossenen Lexikonprojekten zur Geschichte der Kunst. Von der Projektierung bis zum Abschluss nahm das Künstlerlexikon eine Zeitspanne von zwei Generationen in Anspruch, vom Kaiserreich bis kurz vor Beginn des Mauerbaus. Das imposante Ergebnis: 43 Bände mit zirka 25.000 doppelspaltigen Seiten Biografien von 208.142 Künstlern. Und nicht einer einzigen Abbildung.

Die Idee zu einem Künstlerlexikon war vor hundert Jahren keineswegs neu. Seit Aufklärung und Säkularisation gab es Versuche, die Welt in wissenschaftliche Kategorien zu fassen und historisch zu ordnen – auch die Welt der Kunst. Immerhin genoss künstlerischer Genius seit der Renaissance hohe Wertschätzung, und nach dem „anonymen“ Mittelalter hatte sich die Künstlersignatur durchgesetzt. Was lag näher, als diese verstreuten Spuren zu sammeln und einem interessierten Publikum zugänglich zu machen.

Aus der Reihe von Vorläufern des Thieme-Becker ragt das von 1835 bis 1852 erschienene Künstlerlexikon von Georg Nagler heraus – Untertitel: „Nachrichten von dem Leben und den Werken der Maler, Bildhauer, Baumeister, Kupferstecher, Lithographen, Formschneider, Zeichner, Medailleure, Elfenbeinarbeiter etc.“. Ein Erfolg. Und doch galt „der Nagler“ schon nach wenigen Jahrzehnten als zu unaktuell und nicht umfassend genug. Er war noch das Werk eines einzelnen Enthusiasten, aber schon Julius Meyers Versuch, den Nagler im Alleingang zu aktualisieren, schlug fehl: Nach fast zwanzig Jahren Arbeit und nicht einmal zwei abgearbeiteten Buchstaben erschien 1885 der dritte und letzte Band seines Lexikons. Ulrich Thieme und Felix Becker konnten sich keinen Illusionen hingeben, ein noch umfassenderes Lexikon ohne redaktionellen Mitarbeiterstab zu realisieren.

Beide Künstlerlexika folgten dem Anspruch, nicht nur die anerkannten Größen der Kunst vorzustellen, sondern alle Gebiete der Kunst so breit wie nur möglich zu dokumentieren – mit der Folge, dass selbst entlegene Künstler oder solche von minderem Rang erfasst wurden. So erfährt der Leser nicht nur von der Radiererin, Malerin und Gemmenschneiderin Jeanne Antoinette d’Etioles, geborene Poisson, besser bekannt als Marquise de Pompadour, sondern auch von so manchen hier zu Lande wenig bekannten KünstlerInnen wie dem chinesischen Staatsmann und Maler Tsou I-kuei (1686 – 1772) oder der englischen Porträtmalerin Mrs. Mary Beale, geborene Crodock (1632 – 1697; „ihre Porträts sind eigentlich schwach gemalt, entbehren des Ausdrucks und der Feinheit“).

Die Entscheidung gegen den Geniekult sollte sich als Erfolgsrezept erweisen. Noch heute, wo zu fast jedem anerkannten Künstler bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts Monografien oder gar Werkverzeichnisse existieren, ist der Nutzwert von Nagler und Thieme-Becker gerade durch ihren unvoreingenommenen Universalismus ungemindert. Ruth Baljöhr, Spezialistin für Alte Graphik und Handzeichnungen beim Berliner Auktionshaus Bassenge, gerät bei diesem Thema regelrecht ins Schwärmen: „Der Thieme-Becker steht direkt neben meinem Schreibtisch. Es gibt kaum etwas Zuverlässigeres. Im Bereich der Grafik ist allerdings der ältere Nagler sogar noch ein bisschen besser, weil er zusätzlich kurze Werkverzeichnisse bietet.“

Der allgemeinen Wertschätzung, die der Thieme-Becker bei Kunsthändlern und ambitionierten Sammlern genießt, hat es nie einen Abbruch getan, dass die Bände 27 bis 35 zur Zeit des Dritten Reichs erschienen, dass Hans Vollmer nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Lexikonredaktion in Leipzig blieb und für den zum „Volkseigenen Betrieb“ gewordenen Seemann Verlag das Projekt zu Ende führte. Auch die von 1953 bis 1960 herausgegebenen sechs Bände des „Vollmer“, eine Ergänzung des Thieme-Becker um die Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts, genoss im Westen wie im Osten höchste Anerkennung. Weltanschauliche Wertungen im Sinne der DDR, wie etwa im „Lexikon der Bildenden Kunst“ die Regel, fanden im Thieme-Becker-Vollmer keinen Niederschlag.

Den Datenschatz und das internationale Renommee wollte man nach Abschluss des Mammutprojekts nicht brachliegen lassen, und so wurde bereits 1969 ein noch größeres Projekt konzipiert: eine Aktualisierung des Thieme-Becker-Vollmer, die sich im Lauf der Zeit zu einem „Künstlerlexikon der bildenden Künstler aller Zeiten und Völker“ auswachsen sollte. Die Leitung wurde dem Kunstwissenschaftler Günter Meißner übertragen. Trotz eines ursprünglich zwölfköpfigen Redaktionsstabs zog sich das Erscheinen des ersten Bandes bis 1983 hin. „Die Redaktion hatte in seinem ersten Jahrzehnt noch etwas von einem Scriptorum an sich“, heißt es in einer Selbstdarstellung des Münchner Saur-Verlags, der 1991 das „Allgemeine Künstlerlexikon“ übernahm. „Handschriftliche Exzerpte dominierten, die Schreibmaschinen stammten zumeist aus der Vorkriegszeit, und moderne Kopiertechnik fehlte völlig.“

Die technologische Wende erfolgte in der Leipziger Lexikonredaktion allerdings schon vor der politischen. Seit 1984 kooperieren die Leipziger Wissenschaftler mit dem Marbacher Bildarchiv und stellten die Produktion auf elektronische Datenverarbeitung um. Heute umfasst die Systematik fünfhundert künstlerische Berufe und Vertreter aus knapp 150 Ländern. Für viele Kunstliebhaber könnte der auf achtzig Bände konzipierte „Saur“ damit unerschwinglich und vermutlich auch zu umfassend geraten. In zwanzig Jahren, wenn das Projekt abgeschlossen sein soll, dürfte allerdings ohnehin die internationale Online-Nutzung im Vordergrund stehen. Mittlerweile liegt auch der Thieme-Becker-Vollmer als CD-ROM vor. Im Auktionshaus Bassenge allerdings sieht man vorerst keine Veranlassung, auf die elektronische Ausgabe umzusatteln.

Dass mit der Computerisierung und der hohen Produktionsgeschwindigkeit allerdings auch zwingend eine Qualitätssteigerung verbunden ist, erweist sich als Trugschluss. Ruth Baljöhr jedenfalls hat mit dem Saur zwiespältige Erfahrungen gemacht. „Die Qualität der einzelnen Beiträge schwankt je nach Autor. Es gibt im Saur ganz hervorragende Artikel und solche, bei denen man ganz froh ist, dass es auch noch andere Lexika gibt.“ Für Repräsentanten der alten Kunst mit den Anfangsbuchstaben A und B greift sie sowieso zuallererst zum 120-jährigen Meyer. Julius Meyer allerdings säße bei gleich bleibendem Produktionstempo heute wohl am Buchstaben T.

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