Das Gebrechen des Gesundheitswesens

Viele Patienten könnten noch leben, wenn Mediziner endlich systematisch ihre Behandlungsfehler untersuchen würden. Eine offizielle Statistik für Fehler im Gesundheitswesen existiert nicht ■ Von Gerhard Weinreich

Niemand kann ernsthaft behaupten, dass für einen Patienten das Risiko besonders hoch ist, in einem Krankenhaus Opfer eines Behandlungsfehlers zu werden. Aber leider kann auch niemand ernsthaft das Gegenteil behaupten, dass nämlich das Risiko eines Behandlungsfehlers besonders gering sei; denn Deutschland leistet sich den verhängnisvollen Luxus, über die Irrtümer seines medizinischen Personals nicht Buch zu führen.

Zwar liegen hin und wieder inoffizielle Schätzungen zu Opfern von Behandlungsfehlern vor, aber zumeist handelt es sich dabei um Untersuchungen in einem kleineren Rahmen, die dann auf ganz Deutschland hochgerechnet werden. So gibt etwa Christian Zimmermann vom Allgemeinen Patienten-Verband die Anzahl der Todesopfer mit 25.000 an – allein 10.000 Menschen stürben an schlechten Hygieneverhältnissen, die in deutschen Krankenhäusern herrschten.

Solch eine Schätzung ist allerdings mit Vorsicht zu genießen, denn die Spanne der Genauigkeit dürfte in Deutschland sehr groß sein angesichts der amerikanischen Erhebung (siehe unten), die aufgrund ihrer flächendeckenden Auswertung besser ist. Und der höchste und der niedrigste Schätzwert differieren in den USA immerhin um mehr als 120 Prozent. Als weitere Erschwernis für eine sorgfältige Statistik fällt ins Gewicht, dass die Obduktionsrate in Deutschland bundesweit lediglich unter fünf Prozent liegt. „Nur eine Obduktion ermittelt die genaue Ursache“, erläutert Professor Friedrich Wilhelm Kolkmann, der Qualitätssicherungsbeauftragte der Bundesärztekammer. „Wir fordern schon seit Jahren, dass mehr Obduktionen durchgeführt werden – auch im Hinblick auf Behandlungsfehler.“ Doch die deutsche Gesetzeslage verbietet, Obduktionen zwecks einer statistischen Erhebung durchzuführen. Es darf nur obduziert werden, wenn die Todesursache ungeklärt ist oder wenn der Verdacht besteht, dass der Tote durch ein Verbrechen ums Leben gekommen ist.

Wenn es nach den Vorstellungen der Bundesärztekammer geht, wird es gleichwohl in Zukunft eine Art Behandlungsfehlerstatistik geben. Das Zauberwort, der Industrie entlehnt, lautet: Qualitätssicherung. So sollen Zertifikate an Krankenhäuser vergeben werden, wenn sie strenge Richtlinien erfüllen. Ein externer Prüfer begutachtet dann ein Krankenhaus und hält sein Ergebnis in einem Bericht fest. Aus der Summe aller Berichte folgt dann eine aussagekräftige Statistik, aus der Lehren gezogen und Weiterbildungsmaßnahmen abgeleitet werden können. Das hört sich gut an, dennoch bleiben Fragen: Wie genau schaut die Bundesärztekammer, immerhin eine Vertretung der Ärzte, ihren eigenen Leuten auf die Finger? Und wie genau lassen sich Ärzte, bisher im Sinne einer systematischen Beobachtung nur unzureichend kontrolliert, auf die Finger schauen? Eines nämlich ist offenbar: Eine ausreichende Behandlungsfehlerstatistik wird es in Deutschland nur geben, wenn das gesamte medizinische Personal dazu veranlasst werden kann, an ihrer Erstellung mitzuwirken.

Das einzige Instrument zur Fehleruntersuchung, das Deutschlands Gesundheitswesen zur Zeit anbietet, sind die Beschwerdestellen der Krankenkassen. An sie kann sich wenden, wer glaubt, falsch behandelt worden zu sein. Die Techniker Krankenkasse besitzt solch eine Beschwerdestelle bereits seit 1994. Zweifellos eine nützliche Einrichtung, die dem einen oder andern hilft, aber als Werkzeug, um eine gute Behandlungsfehlerstatistik zu ermitteln, taugt sie nicht – was allein schon aus folgenden Zahlen ersichtlich wird: Allgemein beschweren sich bei den Krankenkassen an erster Stelle Ingenieure und an zweiter Lehrer. Nun ist aber mitnichten zu erwarten, dass Ingenieure schlechter behandelt werden als Weihbischöfe oder Zeitungsredakteure.

Als Statistik weist die Erhebung durch eine Beschwerdestelle übrigens noch einen weiteren, gravierenden Mangel auf: Es kommt nämlich eher seltener vor, dass sich Patienten beschweren, die ihre vorübergehende Liegestätte im Krankenhaus gegen eine letzte Ruhestätte auf dem Friedhof eingetauscht haben. Das Grundübel dieser Statistik liegt also darin, dass erst das Opfer den Vorfall melden muss.

Aus welchem Grunde dies unzureichend ist, wird spätestens bei einem Vergleich mit der Luftfahrt deutlich: Wie grotesk würde es anmuten, wenn sich die Fluggesellschaften auf den Standpunkt stellten, eine Fehleruntersuchung sei erst dann einzuleiten, sofern sich ein Passagier beschwert.

Überhaupt sollte die deutsche Medizin die Grundhaltung der Luftfahrt übernehmen, die den Menschen wie selbstverständlich als eine Fehlerquelle unter vielen betrachtet. Tritt einmal ein Fehler auf, setzen die Fluggesellschaften also alles daran, dass er sich in Zukunft nicht mehr wiederholen wird. Die aufgetretenen Fehler werden der International Civil Aviation Organization mitgeteilt, einer Unterorganisation der UNO. Auf diese Weise existiert eine zentrale Stelle, in der aus der gesamten Welt Berichte über Fehler gesammelt und ausgewertet werden. Das Spektrum der gemeldeten Irrtümer reicht vom Pilotenfehler bis zum saumseligen Mechaniker, der seinen Schraubenschlüssel verlegt hat. Jede Fluggesellschaft kann sich nun der Daten bedienen und Rückschlüsse für ihre eigenen Belange ziehen.

„Das Wissen über die Fehlerursachen ist für uns von entscheidender Bedeutung“, schildert Michael Lamberti von der Lufthansa. „Nur so können wir die richtigen Rückschlüsse ziehen, die auch Einfluss auf die zukünftige Auswahl unseres Personals haben. Darüber hinaus gibt es ja sogar Fehler, für die unsere Angestellten nicht verantwortlich gemacht werden können, wenn sie beispielsweise auf eine bestimmte Situation schlecht vorbereitet wurden. In diesem Falle handelt es sich dann um einen Ausbildungsfehler.“ Besonders hervorzuheben ist, dass die Lufthansa an ihre zukünftigen Piloten bestimmte körperliche und psychologische Anforderungen stellt, die vor der Einstellung überprüft werden.

Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Fortschritte bei der Fehlervermeidung lassen sich nur erzielen, wenn genau belegt wird, wann wer welche Fehler unter welchen Umständen macht. Dass derartige Erhebungen bisher nicht erfolgt sind, ist eine Schande für die Medizin. Sofern es übrigens doch noch eines Tages zu einer Behandlungsfehlerstatistik kommt, könnte sie auch zu Tage fördern, dass bestimmte Charaktertypen in diesem Gesundheitswesen weniger zu Fehlern neigen als andere. Dies hätte dann zur Folge, dass für die Zulassung zum Medizinstudium nicht allein mehr die Noten ausschlaggebend sein dürften. Aber zumindest das ist wohl Zukunftsmusik, die wir niemals hören werden.