: Ein Riss im Dach der Welt
Eine Fotoreportage von Kadir van Lohuizen
Tibet ist in der westlichen Welt so populär wie nie zuvor. Auf dem Dach der Welt boomt der Tourismus, und in europäischen und amerikanischen Kinos laufen mit „Himalaya“, „Kundun“ und „Sieben Jahre in Tibet“ Spielfilme, die das asiatische Land einem Massenpublikum nahe bringen. Aber Tibet ist nicht nur das exotische Land, das viele in ihm sehen. Denn der wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel sorgt dort inzwischen für scharfe Kontraste, und die chinesische Kontrolle ist heute umfassender denn je.
Seit meinem letzten Besuch vor drei Jahren hat sich Tibet ungeheuer verändert. Bis vor kurzem war Lhasa eine tibetische Stadt mit einigen chinesischen Vierteln. Heute ist es umgekehrt. Im chinesischen Teil der Stadt mit ihren großen Bürohäusern braust chaotischer Verkehr. Hier wähnt sich der Besucher eher in Peking als in Lhasa, auf dem Dach der Welt.
Den Platz vor dem Potala, dem Winterpalast des Dalai Lama in Lhasa, haben die Chinesen in einen mit dem Tiananmenplatz in Peking vergleichbaren Ort verwandelt. Tibetische Pilger haben dort Probleme mit dem starken Verkehr. In der Mitte des Platzes haben die Chinesen ihre Fahne gehisst. Schon am ersten Tag versuchte jemand erfolglos, sie gegen die tibetische Fahne auszutauschen – Zeichen der nach wie vor virulenten Spannungen zwischen Tibetern und Chinesen.
Tibet genießt erst seit 1991 wirtschaftliche Freiheiten, die einen großen Boom auslösten. So hatte Tibet zum Beispiel 1997 das größte Wirtschaftswachstum im chinesischen Machtbereich. Vor allem die junge Generation der Tibeter identifiziert sich stärker mit den Chinesen. Sie hat das Gefühl, dass die überlieferten tibetischen Lebensweisen nicht mehr zeitgemäß sind. In Tibet gibt es heute materiellen Wohlstand, doch für die Bevölkerungsmehrheit ist er unerreichbar. Es sieht so aus, als hätten die chinesischen Herrscher einen Weg gefunden, um die Gesellschaft zu spalten – in Alte und Junge, Stadt und Land, Arme und Reiche.Die Stadt Zedang östlich von Lhasa, zeigt beispielhaft die Entwicklung in Tibet. Dörfer, die vorher keine Landkarte verzeichnete, wurden in chinesische Städte verwandelt. Die Ortschaften werden von großen Kreuzungen und Plätzen mit für Tibeter unerklärlichen Monumenten in der Mitte dominiert. Morgens frühstücke ich in einem kleinen chinesischen Restaurant. Die Betreiber sind eine chinesische Familie aus Sichuan, der Provinz östlich der „Autonomen Region Tibet“. Vor einem Jahr zog die Familie aus finanziellen Gründen hierher. Denn Chinesen können in Tibet mehr Geld verdienen als in anderen Provinzen. Doch es sei sehr kalt hier, sagt der Restaurantbesitzer, und das Geschäft gehe schlecht. Die Rückkehr nach Sichuan komme für die Familie aber nicht in Frage, weil man sich einen erneuten Umzug nicht leisten könne. Vor der Tür versuchen drei Jugendliche mit ihrem Motorrad einem Mädchen zu imponieren. Ich muss zweimal hinsehen: Sind sie Tibeter oder Chinesen? Motorräder, Handys, Nachtclubs und Imponiergehabe – auch das ist Tibet.
Das Dorf Tingri am Fuß des Himalaya liegt an der „Straße der Freundschaft“, die Tibet mit Nepal verbindet. Die Gesichter der Bewohner schimmern in der gleichen Farbe wie die Erde. Hier wähnt man sich Jahrhunderte in die Vergangenheit zurückversetzt. Pferdewagen ziehen vorbei; auf den Dächern lagern gern Wintervorräte. Es gibt viele Dörfer und Siedlungen, die nur sehr wenig Kontakt mit der Außenwelt haben. Nur die große Kaserne der chinesischen Volksbefreiungsarmee erinnert daran, dass man sich in der Moderne befindet. Große chinesische Schriftzeichen verkünden, dass China und Tibet zusammengehören. Die Chinesen haben hier zumindest eine Infrastruktur geschaffen.
Auf dem Rückweg treffen wir zwei Tibeter, die eine Motorradpanne haben. Sie sehen in ihren schönen Mänteln und Hüten aus Fuchspelz aus, als wollten sie eine neue Mode einführen.
Kadir van Lohuizen
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