: Puppen, die leben und lesen
Bei Karstadt an der Mönckebergstraße im Schaufenster sitzen echte Frauen in Unterwäsche aus der Schweiz ■ Von Sandra Wilsdorf
Leben in der Großstadt: Größte Ungeheuerlichkeiten bringen die Menschen nicht aus der Fassung. Dass bei Karstadt statt Schaufensterpuppen lebende Frauen im Fenster sitzen, lässt kaum jemanden sein Freitagnachmittag-Schlender-tempo verlangsamen und genauer hinsehen. Fast niemanden. Einige sind hingegen so aus der Fassung, dass sie Karstadt anrufen und als frauenfeindlich beschimpfen oder Zettel ans Schaufenster kleben: „Die Würde des Menschen ist antastbar“.
Die Frauen hinter Glas sind es nicht. Die sitzen da in weißer Unterwäsche aus der Schweiz, gucken schön, und gegen die Langeweile lesen sie „Dunkle Verheißung“ oder „How Stella got her groove back“. Eine der drei fummelt dauernd an ihrem Handy. „Ich schicke gerne E-Mails“, sagt sie. Und manchmal versuchen Männer Kontakt aufzunehmen. „Die halten ihre Visitenkarte an die Scheibe oder ihre Handy-Nummer.“ Aber das ist zwecklos, zu kaufen gibt es hier nur die Unterwäsche, keine Frauen. Umsonst gibt es dafür die Illusion, dass der BH für 160, der String für 100 und das Negligee für 300 Mark die Frau zu Hause villeicht auch ein bisschen schöner machen. „Das finde ich eine gemeine Desillusionierung, hier solche Frauen hinzusetzen, und dann kommen die Männer nach Hause, und ihre Frau sieht ganz anders aus“, sagt eine Frau. Vielleicht liegt das daran, dass der Mann die Sonnenbrille und die höchsthackigen Schuhe vergessen hat, die die Schaufenster-Frauen schließlich auch tragen. „Am Anfang habe ich immer gestanden wie eine Puppe, und die Leute damit erschreckt, dass ich einen Schritt auf sie zugemacht habe. Aber auf diesen Schuhen kann man unmöglich lange stehen, deshalb sitze und lese ich jetzt“, sagt eine.
Die meisten Leute gehen einfach weiter, einige lachen oder winken. „Also, ich als Mann finde das gut“, sagt einer. Eine Frau findet, „das ganze nicht besonders spannend“, eine andere fragt: „Wo sitzen denn die Männer?“. Böse ist niemand, den Zettel zum Thema antastbare Würde haben Karstadt-Mitarbeiter blitzschnell entsorgt. Zeit für eine neue Spur der Frauenfeindlichkeit. Die führt in den Laden gegenüber: Im Hansebäcker hängt ein Plakat mit einer Kaffeebohne über loderndem Feuer. Der Text: „Der Kaffee muss heiß sein wie die Küsse eines Mädchens am ersten Tag, süß wie die Nächte in ihren Armen und schwarz wie die Flüche ihrer Mutter, wenn sie es erfährt“. Kümmert auch niemanden. Großstadt eben.
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