Literatur in Braille gibt es kaum

An den drei Universitäten studieren nur ein gutes Dutzend Blinde. Die Dozenten sind mit der Behinderung vielfach überfordert und geben keine Hilfestellungen ■ Von Isabel Merchan

Ein Schwung Studenten steigt aus der U 1. Eilig verschwinden sie Richtung Freie Universität (FU). Eine Frau bleibt zurück. Mit einem Stock tastet sie den Boden ab, schlägt den Weg zum Institut für Psychologie ein. Gabi C. kennt den Weg – sie studiert seit zehn Jahren Psychologie an der FU. Ihr Gehör ist ein guter Wegweiser. Akustisch kann Gabi die Entfernung von Autos auf der Straße einschätzen.

Gabi, als Kind durch einen Tumor blind geworden, gehört zu den wenigen blinden Studenten an der FU – mit 44.000 Studenten die größte Berliner Uni. Probleme mit der Orientierung auf dem Campus hat die 29-Jährige nicht – eine Ausnahme ist die Mensa in der Rostlaube. Hier, wo täglich etwa 8.000 Studenten essen und zu Hochzeiten das Chaos regiert, kommt Gabi „null klar“, sagt sie. Ihr Essen bringt sie sich von zu Hause mit und konstatiert lapidar: „Als Blinde muss man eben kreativ sein.“ Doch Kreativität allein hilft Gabi nicht immer weiter, vor allem dann nicht, wenn sie sich auf Seminare vorbereiten oder Stoff nachlesen will. Literatur in Brailleschrift gibt es wenig und so beschreibt Gabi „die Beschaffung und Aufbereitung von Texten“ als ihr größtes Problem im Studienalltag.

Im Moment verbringt die gebürtige Hamburgerin viel Zeit in ihrer Zweizimmerwohnung in Friedenau und schreibt an ihrer Diplomarbeit über„Verantwortung und Entwicklung des Selbst“. Im Haus leben Blinde und Sehende, Besitzer ist der Blindenverein. In Gabis Arbeitszimmer steht eines ihrer wichtigsten Studieninstrumente – ein Scanner. „Seit Tagen bin ich dabei, das Buch hier einzuscannen“, sagt Gabi und drückt das Psychologiehandbuch auf das Gerät. Je nach Qualität der Vorlage dauert das Einlesen einer Seite bis zu zwei Minuten.

Nach dem Einscannen bearbeitet Gabi die Dateien mit Texterkennungsprogrammen und hat dann die Texte auf ihrem Bildschirm. An ihr Notebook ist eine Braillezeile angeschlossen, auf der kleine Metallstifte die Schrift auf dem Monitor repräsentieren. Schnell fährt Gabi mit ihrem Zeigefinger über die Stifte um den Text zu lesen. Zum Schreiben benutzt Gabi eine „normale“ Tastatur auf der sie zum Beispiel mittippt, was in ihren Psychologieseminaren besprochen wird.

Computeranlagen inklusive Rechner, Scanner und Brailledrucker kosten 10.000 bis 15.000 Mark. Vier Semester lang musste Gabi auf ihre Anlage warten, weil sich Sozialamt und Krankenkasse nicht über die Kostenübernahme einigen konnten. Studieren konnte Gabi in dieser Zeit nicht.

Um nicht sämtliche Unterrichtsmaterialien scannen zu müssen, wären Disketten mit der Seminarliteratur ideal, aber von ihren Uni-Dozenten bekommt Gabi kaum Unterstützung. Richtig ärgerlich findet es Gabi, wenn Dozenten ihre Seminare ausschließlich mit Folien und Tageslichtschreibern gestalten. „Ich will keine spezielle Behandlung weil ich blind bin, aber so was geht einfach nicht. Ich sage das den Dozenten auch ganz klar“. Die Reaktion auf ihre Kritik sei aber oft „gleich null“.

In solchen Fällen ist der Behindertenbeauftragte der FU, Georg Classen, gefragt. Beschweren sich Behinderte über das Verhalten von Dozenten, redet Classen mit ihnen. „Die Dozenten wissen oft nicht genau, wie sie Behinderten helfen können“, sagt er. Classen hat in seiner langjährigen Praxis festgestellt, dass die Lehrenden für Gespräche mit ihm offen seien und „danach auch versuchen, ihr Verhalten zu ändern“. Beschweren will sich Gabi jedoch nicht: „Wenn man an der FU studiert, weiß man, was einen erwartet. Ich komme schon zurecht.“ Dennoch: Wenn sie jetzt mit dem Studium anfangen würde, würde sie sich für eine kleinere Universität entscheiden. „Die FU ist wegen der Überfüllung für Blinde eigentlich ungeeignet“, sagt sie.

Viele blinde, studienwillige Berliner sehen das offenbar genauso. Insgesamt leben 1.682 Blinde in Berlin. Diejenigen, die studieren wollen, verlassen nach Angaben von Peter Brass vom „Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V.“ (DVSB) die Stadt und gehen an kleinere Universitäten. „Teils wegen der besseren fachlichen Qualität, teils weil die großen Unis in Berlin auf Blinde abschreckend wirken“, erklärt Brass. So erklärt sich wohl, dass an der FU nur etwa zwölf Blinde studieren, an der Technischen Universität keiner, für die Humboldt-Universität liegen keine Zahlen vor.

Über Diskriminierung an der FU macht sich Gabi keine Gedanken. Was sie aber bemerkt, sind Berührungsängste mancher Kommilitonen. „Ich spüre einfach diese Distanz. Vor allem in meinem Fachbereich Psychologie.“ Da nervt sie, dass die Leute immer so unheimlich mitfühlend und verkrampft ihr gegenüber seien. Ihre Freunde sucht sie sich lieber außerhalb ihres Fachbereichs und außerhalb der Uni – in Musikerkreisen. „Ich finde Musiker angenehm locker“, erzählt sie. „Die geraten nicht gleich ins Stocken bei Sätzen wie „Wir sehen uns morgen.“ Seit Jahren spielt Gabi Klarinette in einer Folklore- und Klezmerband zusammen mit sehenden und blinden Musikern.

Mit Blinden hat Gabi an der Uni wenig zu tun. „Man schließt sich nicht zusammen, nur weil man blind ist.“ Den einzigen Kontakt zu blinden Kommilitonen hat sie über ihren Job in der „Servicestelle für blinde und sehbehinderte Studenten“. Die Servicestelle bereitet Studienliteratur für Blinde und Sehbehinderte auf, nimmt die Literatur auf Cassette auf oder druckt sie in Brailleschrift aus. Tutoren aus der Servicestelle assistieren auch bei Prüfungen von Blinden und Sehbehinderten. Gabi arbeitet seit zwei Jahren in der Servicestelle und verdient so ihren Lebensunterhalt. Was sie nach dem Ende des Studiums machen wird, lässt sie auf sich zukommen, kann sich aber einen Job in einer psychosozialen Beratungsstelle vorstellen.