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Zwischen Russland und Ostpreußen

Die Exklave Kaliningrad wirbt mit Natur um Ökotouristen und arbeitet dafür mit dem WWF zusammen ■ Von Maike Rademaker

Von der Birke ist gerade mal die Hälfte zu sehen. Ein gutes Stück des Stammes ist im Sand versunken, die Blätter rascheln trocken in der Ostseebrise. Auch wenn das Wandern der Ephas-Düne, einer riesigen Sandwelle, im vergangenen Jahrhundert von dem königlichen deutschen Düneninspektor Franz Ephas gestoppt werden konnte, den ein oder anderen Baum frisst sie immer noch, langsam, aber sichtbar. Als wenn sie sagen wollte: Seht her, ich bin noch da, und wenn ich will, dann versinkt auch noch Morskoje im Sand.

Morskoje ist eines der drei Dörfer auf dem russischen Teil der Kurischen Nehrung, die noch stehen, die anderen sind Rybatschi und Lesnoje. Morskoje trug einmal den deutschen Namen Pillkoppen, so wie Rybatschi einmal Rossitten hieß und Lesnoje Cranz. Rybatschi ist heute noch bekannt für seine einzigartige, seit 1901 existierende Vogelwarte, der Glanz des ehemaligen Ostseebades Cranz dagegen ist verblasst. Die deutschen Namen gibt es sowieso nicht mehr. Die Vertreibung der Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg durch die Russen war endgültig, auch die Namen wurden getilgt. Nur die beiden Wanderdünen tragen noch die deutschen Namen: Ephas Düne und Müller Höhe.

Wer ihren Kamm erklettert, hat freien Blick: auf der einen Seite die graublaue Ostsee, Kiefernwälder, kilometerlanger Strand, rechts das von Algen grünschimmernde Haff, dazwischen geduckt die Orte.

Es ist ruhig dort oben, bis auf den stetigen Wind ist nichts zu hören. Schließlich ist die Kurische Nehrung, ein gerade 100 Kilometer langer und maximal vier Kilometer breiter Land- und Sandstreifen seit 1987 ein Nationalpark, also sollen die Besucher nach Passieren des Schlagbaums, mit ihren Autos auf der einzigen großen Straße bleiben. Was hunderte russische Tagesgäste aus Kaliningrad nicht weiter interessiert. Sie parken überall.

Geprägt vom Misstrauen gegen die Deutschen

Gegen die Wanderdünen muss heute kein Dorf mehr auf dem schmalen Landstreifen zwischen Ostsee und Brackwasserhaff kämpfen, wohl aber gegen den Zerfall von Hütten, Häusern und dem kleinen Hafen, sowie gegen die Arbeitslosigkeit. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion geht es den Menschen auf der Nehrung schlecht, wie den meisten im Kaliningrader Gebiet. Daran hat die Einrichtung der Freihandelszone 1991 bisher wenig ändern können. Einer der Verbündeten im Kampf gegen die Armut im Nationalparkgebiet ist ein deutscher Naturschützer. Kein Ostpreuße, der über das ökologische Hintertürchen revanchistische Gedanken hegt, sondern ein igelköpfiger 39-jähriger Biologe namens Alfred Schumm vom WWF-Büro in Stralsund, der hartnäckig und geduldig eins verfolgt: Den Zauber der Nehrung, ihre Wälder, die langen Strände, die seltenen Tiere, den weiten Blick über zwei Küsten nicht von Massentourismus und Hotelbauten zerstören zu lassen. Keine einfache Aufgabe in einer Region, die geprägt ist vom Misstrauen gegenüber allen Deutschen.

Alfred Schumm hat Probleme mit den russischen Förstern.Wie die meisten Förster dieser Welt sind sie der festen Überzeugung, dass der Wald ohne sie nicht wächst. Also muss gepflegt, sprich eingeschlagen werden. Zu den russisch-deutschen Konflikten kommt das urrussische Naturverständnis: „Der Russe an sich liebt die Natur“, erklärt Felix Alexeev, staatlich geehrter Ökologe des Russischen Umweltkomitees, „er geht Angeln.“ Natur schätzt der Russe, wenn er sie nutzen kann, wenn er Beeren und Pilze sammeln kann. Und baden. Dafür will er mit dem Auto an den Strand, durch jeden Wald fahren. Das Leitbild eines WWF-Biologen, der sehen will, was die Natur aus sich macht, wenn der Mensch sie in Ruhe lässt, passt nicht zu russischen Vorstellungen.

Also besuchten Russen und Deutsche sich gegenseitig immer wieder, um herauszufinden was der andere meint mit Schutz und mit Ökotourismus in einem Nationalpark. Das Besuchen, Reden, Streiten zeigt nun seine Früchte: Die Kernzonen des Nationalparks, in denen eine wirtschaftliche Nutzung ausgeschlossen ist, sind ausgeweitet worden. Überall stehen mehrsprachige, gut sichtbare Infotafeln. In den Dünen verschaffen Aussichtstürme einen wunderbaren Blick über die Küsten der Nehrung. Holzstege sollen davon abhalten, dass jeder sich seinen eigenen Weg durch den Sand sucht und damit pro Schritt 40 Tonnen Sand in Bewegung setzt.

Bei den Förstern und aus der Bevölkerung heraus werden Ranger rekrutiert und ausgebildet, geplant sind Ökopfade und touristische Angebote von den Einwohnern der Dörfer, angefangen von Unterkünften bis zu Bootsfahrten. Es fehlen also nur noch die gut zahlenden Ökotouristen aus dem nahen Deutschland.

Denen wird nicht nur ein Nationalpark geboten, sondern bei Regenwetter auch eine unterhaltsame Führung im Museum in Selesnoje.

Gesucht: der fröhliche, deutsche Ökotourist

Dort erzählt die ehemalige Hochschullehrerin Albina Belajewa gerne und in klarem Deutsch pikante Geschichten aus der Historie der Nehrung. „Um die Jahrhundertwende“, berichtet sie, während sie interessiert die Gesichter der Zuhörer mustert, „fingen die Fischer auf der Nehrung auch Nebelkrähen für den Kochtopf. Um sie zu töten, zerbissen sie die Hirnschale der Vögel. Danach gab es Schnaps.“ Gelungen. Alle gucken angeekelt.

Solch fröhlicher deutscher Ökotourismus, ein bisschen Museum, ein bisschen Vögel gucken, schwimmen gehen und übrigens sehr gut essen, frischen Fisch und Aal, funktioniert aber nicht überall im Kaliningrader Gebiet. Nicht weil es immer noch schwierig ist, eine passable Unterkunft zu finden, man immer noch ein Visum bestellen muss, kleine Bestechungen den Alltag einfacher machen. Die leichte Beklemmung liegt in der Geschichte des Kaliningrader Gebietes, seiner deutschen Geschichte.

Kaliningrad, das ist Ostpreußen. Das sind die blühenden Landschaften in den Erzählungen von Marion von Dönhoff, das ist die Stadt Königsberg, die der Philosoph Immanuel Kant nie verlassen hat. Hier im Kaliningrader Gebiet stand Thomas Manns Sommerhaus und schwärmte Wilhelm von Humboldt von der Nehrung. Dann kam der Krieg, die Vertreibung der Deutschen. „Wir haben ja während der Sowjetzeit fast nichts gründlich gemacht. Aber eines schon: Wir haben alles kaputt gekriegt, was die Deutschen hinterlassen haben“, summiert Felix Alexeev die Vergangenheit. Was sie nicht zerstören konnten, sind die Erinnerungen und die feinen Spuren.

Auch wer nur ein paar Tage da ist, spürt, hört und sieht die Vergangenheit. Manchmal ist es genau das Neue, die Angst und Ablehnung bei den russischen Gastgebern oder das genaue Gegenteil, die verständnisvolle Freundlichkeit, die darauf hinweist.

Es gibt auch den Nostalgietourismus

Manche, die hier aufgewachsen sind und flüchten mussten, scheuen deswegen vor einem Besuch zurück. Für diese wie für viele andere ist Ostpreußen untergegangen, ihr Ostpreußen. Die noch kommen und ihren Erinnerungen folgen, nennt man hier vorsichtig „Nostalgietouristen“

Gegenüber der Nehrung ist tatsächlich ein Stück Ostpreußen regelrecht im Wasser versunken. Hier beschert gerade die Zerstörung der deutschen Fleißarbeit den Kaliningradern vielleicht bald ein neues Naturjuwel. An der der Nehrung gegenüberliegenden Küste des Haffs beginnt, was der Ökologe Alexeev liebevoll ein „russisches Amazonien“ nennt. Vor hundertfünfzig Jahren hatten deutsche Siedler den Sumpf für die Landwirtschaft urbar gemacht und zur Entwässerung dutzende von Kanälen gebaut. Mit der Vertreibung der Deutschen zerfielen die Siedlungen, die Biber gaben den Dämmen den Rest.

Heute ist Russisch-Amazonien ein Gewirr aus Wasserarmen, Bächen, Sumpf und Flüssen und Heimat zahlreicher Tierarten wie Adler, Biber, und riesige Welse. An den Ufer schwappen Seerosen und andere Wasserpflanzen, umgestürzte Bäume ragen ins Wasser. Es ist eine urtümliche Wildnis und eine Brutstätte für Mücken, Bremsen und Libellen.

Hier und dort lugen noch faulende Anlegepfosten aus dem weichen, torfbraunen Wasser, oder es stehen Ruinen im Wald. Ostpreußische Ruinen, Reste von Kirchen und Häusern.

Felix Alexeev will aus Russisch-Amazonien ein Naturschutzgebiet machen und sanfte Touristen einladen. Vorausgesetzt: die Förster haben nichts dagegen einzuwenden.

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