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Ost-Jugend geht auf Distanz zur BRD

Für die Jugend im Osten hat die Bundesrepublik nicht gehalten, was sie versprochen hatte. Zehn Jahre nach Fall der Mauer stößt die westliche Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft auf immer größere Skepsis ■ Von Eberhard Seidel

Berlin (taz) – Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer weiß niemand so recht, wie es mit dem deutsch-deutschen Einigungsprozess weitergehen wird – ökonomisch, politisch und kulturell. Und noch immer ist ungeklärt, welche Gruppe dieses neue Deutschland am besten verkörpert. Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Joschka Fischer auf alle Fälle nicht. Sie taugen dazu ebenso wenig wie der Rest der Bürger der ehemaligen BRD. Die Wende ist für sie bis heute bestenfalls ein Reflexionsthema, nichts, was ihr Leben wirklich berührt.

Träger der deutsch-deutschen Einigung können nur die jüngeren Menschen zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen sein. Jene, die ein wenig DDR erlebten, ihren Niedergang und schließlich ihr völliges Verschwinden. Die zum Zeitpunkt der Wende noch jung und offen genug für das neue Deutschland waren. Gründe genug, zu fragen: Wie haben sie die zehn Jahre seit 1989 verarbeitet?

Die positive Grundeinstellung zur deutschen Einheit ist bei jungen Ostdeutschen von 1990 bis 1995 angestiegen. Seit 1996 wächst gleichzeitig die Distanz zum politischen System der Bundesrepublik. Dies sind zwei Resultate einer Studie, die der Leipziger Sozialforscher Peter Förster kürzlich in Berlin vorstellte. Seit 1987 führte der ehemalige Mitarbeiter des 1990 abgewickelten Zentralinstituts für Jugendforschung (ZIJ) aus Leipzig 13 Befragungen mit hunderten von Jugendlichen durch, die um 1973 geboren wurden. Zunächst unter dem Dach des ZIJ, dann gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und heute unterstützt von der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Es ist die einzige sozialwissenschaftliche Untersuchung, die über eine solide Datenbasis aus der Vor- und Nachwendezeit verfügt und den politischen Einstellungswandel der Jugendlichen und jungen Erwachsenen dokumentiert. Ursprünglich (1987) waren 1.240 Schülerinnen und Schüler aus den damaligen Bezirken Leipzig und Karl-Marx-Stadt in die Untersuchung einbezogen. Heute sind es immerhin noch 368, die zur Mitarbeit bereit sind.

Die Studie belegt: Zehn Jahre nach der Wende haben die Befragten von diesem einheitlichen Deutschland Besitz ergriffen, finden sich zunehmend besser in ihm zurecht und nutzen die sich daraus ergebenden Vorteile der Persönlichkeitsentwicklung. Die politische Einheit Deutschlands ist für sie bereits zur Selbstverständlichkeit geworden, die, abgesehen von einer Minderheit, nicht in Frage gestellt wird.

Peter Förster warnt gleichzeitig all jene, die glauben, daraus ableiten zu können: Alles wird gut. Denn der Einigungsprozess ist kein linear vorwärtsschreitender. Wie sich die Bewusstseinslage der untersuchten Generation weiterentwickeln wird, ist noch nicht absehbar. Aber die Aussichten stimmen keineswegs optimistisch.

Noch nicht in der neuen Gesellschaft angekommen

Die Mehrheit sieht sich, trotz ihres Bekenntnisses zur Einheit und trotz ihrer Ablehnung des SED-Staates, noch lange nicht in der neuen Gesellschaft angekommen. Seit 1992 hat es nur geringfügige Verschiebungen in der Identifikation als Bürger der Bundesrepublik gegeben. Nur 16 Prozent der Jugendlichen sehen sich vor allem als Bürger der Bundesrepublik, 14 Prozent sehen sich als DDR-Bürger und 65 Prozent sehen sich sowohl als DDR- als auch als BRD-Bürger.

Eine deutlichere Distanz zur neuen Gesellschaft kommt zum Ausdruck, wenn 55 Prozent der Befragten angeben, sie fühlten sich als Bürger zweiter Klasse und gleichzeitig lediglich vier Prozent der Jugendlichen glauben, dass Politiker ein Interesse für ihre Probleme hätten. Die Distanz zum System erklärt sich Förster aus den Schwierigkeiten der beruflichen Integration: 55 Prozent der Jugendlichen waren bereits ein oder mehrmals arbeitslos. 32 Prozent der jungen Frauen waren es länger als ein Jahr, bei den Männern waren es 15 Prozent.

Viele Jugendliche reaktivierten in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre Werte, die zu DDR-Zeiten vermittelt wurden, zum Beispiel kapitalismuskritische Einstellungen und Distanz zu einem offenen Gesellschaftssystem. Diese Dinge hatten in den ersten Jahren nach der Wende kaum eine Rolle gespielt. Die Folge: Die Unzufriedenheit mit dem derzeitigen politischen System wächst. 1992 waren noch 32 Prozent mit ihm zufrieden und nur 18 Prozent unzufrieden. 1998 betrug der Anteil der Unzufriedenen bereits 26 Prozent, der der Zufriedenen sank auf 21 Prozent. Am deutlichsten schlägt diese Entwicklung bei den jungen Frauen durch, die am stärksten von den gesellschaftlichen und ökonomischen Umwälzungen betroffen sind.

Die Entwicklung der Unzufriedenheit mit dem realexistierenden kapitalistischen Gesellschaftssystem verlief nicht kontinuierlich. Bis 1994, dem Jahr der vorletzten Bundestagswahl, wurde alles besser. Seitdem stagniert der Prozess der Wiedervereinigung und der Unmut wächst. Leidtragende sind einmal mehr die Ausländer. Fiel der Anteil der Befragten, die eine klare ausländerfeindliche Haltung artikulierten, von 1992 bis 1994 von 40 auf 23 Prozent, ist dieser inzwischen wieder auf 32 Prozent angestiegen. Und die Gruppe der Toleranten, die keine Ressentiments gegenüber Ausländer verspüren, ist mit 25 Prozent auf einen historischen Tiefststand der Nachwendejahre gefallen.

Demokratie, Individualismus, Pluralismus und Kapitalismus – die Fundamente und Versprechen der bundesdeutschen Gesellschaft stoßen bei den jungen Erwachsenen im Osten nur auf eingeschränkte Zustimmung. Denn erlebt werden vor allem Arbeitslosigkeit, existenzielle Verunsicherung, soziale Ungerechtigkeit, Diskriminierungen und geringe Möglichkeiten demokratischer Mitgestaltung.

All das, so Förster, sind Faktoren, die die Jugendlichen wieder auf Distanz zum System der Bundesrepublik rücken lassen.

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