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Fluchtpunkt und Zwischenstation Türkei

Deutschsprachige Emigranten in der Türkei: Eine Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste informiert über das Lebenim türkischen Exil 1933–1945. Von den Privilegien der Bildungselite und den Tücken des ganz normalen Alltags  ■ Von Semiran Kaya

„Wird ein Türke Berlins Oberbürgermeister?“, so lautete die im Boulevardstil dick herausgehobene diskriminierende Schlagzeile des kommunistischen Vorwärts am 19. November 1946. Damit leitete das von der SED kontrollierte „Berliner Volksblatt“ die Kampagne gegen den Magdeburger Politiker Ernst Reuter ein, der von 1948 bis zu seinem Tode 1953 Erster Regierender Bürgermeister Westberlins war. Wohl wissend, dass die deutsche Bevölkerung so gut wie nichts über die Hintergründe des Exillebens in der Türkei wusste, versuchten deutsche Kommunisten und die russisische Stadtverwaltung, Reuters Kandidatur zu torpedieren, und denunzierten ihn wegen seines türkischen Exils als „Türke“.

Christine Fischer-Defoy, Vorsitzende des Vereins Aktives Museum, das die Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste mit dem Titel: „Haymatloz – Exil in der Türkei 1933–1945“ organisierte, spricht von einem „gezielten Wissenschaftler-Transfer“. Sie nennt einige Fakten: „Wir haben etwa 1.000 Lebensgeschichten dokumentiert. Es sind ungefähr 700 jüdische und etwa 120 Emigranten, die aus politischen Gründen oder weil sie ihre Kunst nicht mehr ausüben konnten, weggegangen sind.“ Als am 1. August die Universität „Istanbul“ eröffnet wurde, gab es 27 türkische und 38 ausländische Ordinarien. Dabei erhielten die türkischen Professoren meist nur die Hälfte oder ein Viertel vom Gehalt ihrer ausländischen Kollegen. Bis in die Vierzigerjahre belegten Emigranten die Hälfte der Lehrstühle an der Istanbuler Universität.

Ein kurzer Rückblick auf Deutschland, April 1933: Seit Einführung des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, das nur „Ariern“ die Beschäftigung im Staatsdienst erlaubte, verlieren tausende aus rassistischen oder politischen Gründen ihre Stellung: Beamte – Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten –, später auch Angestellte – unter ihnen viele Wissenschaftler an deutschen Universitäten. So auch der SPD-Abgeordnete des Deutschen Reichstags, Ernst Reuter. Ihm und vielen anderen blieb nur die Flucht ins Ausland als Überlebenschance.

Die Türkei, im Ersten Weltkrieg noch mit Deutschland alliiert, nahm während der NS-Zeit etwa tausend deutschsprachige Emigranten auf, darunter zahlreiche Wissenschaftler und Künstler. Gemessen an Exilländern wie der Tschechoslowakei, England, Frankreich und den Vereinigten Staaten, eine kleine Zahl. Dass aber gerade die Türkei diesen Berufsgruppen ideale Bedingungen für einen Neuanfang schuf, von denen nicht nur Flüchtlinge träumen konnten, hatte seinen Grund: Die zu dieser Zeit junge Türkische Republik, 1923 gegründet, brauchte beim Aufbau und der radikalen Modernisierung des Landes Unterstützung.

Eine Serie von Maßnahmen – nach westlichem Vorbild konzipiert – war darauf gerichtet, die politischen, wirtschaftlichen, sozialen, aber insbesondere auch die geistig-kulturellen Grundlagen für einen modernen Staat zu schaffen, der vor allem auf den Prinzipien des Säkularismus und des türkischen Nationalismus beruhen sollte. Nachdem schon einige Reformen wie die des Frauenstimmrechts und der Einehe (1926) und die Übernahme des lateinischen Alphabets (1928) abgeschlossen waren, sollte als nächstes die Hochschulreform folgen. Als die türkische Regierung 1932 dann den Genfer Pädagogikprofessor Albert Malche mit der großen Reform des Hochschulwesens beauftragte, sollte dies maßgebend die Geschichte vieler deutschsprachiger Emigranten in der Türkei prägen: Anders als in anderen Exilländern waren sie hier als Ratgeber, Reformer und Gutachter willkommen.

In Zürich hatte sich im März 1933 unter der Leitung von Philipp Schwartz, der in die Schweiz ausgewandert war, eine „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“ gegründet. Diese wurde von Albert Malche über die Suche der türkischen Regierung nach westeuropäischen Wissenschaftlern informiert. Bis 1937 konnten mit Hilfe der Notgemeinschaft rund 1.700 Wissenschaftler aus den verschiedensten Bereichen an ausländische Universitäten vermittelt werden: „Ich wusste, dass die schmachvolle Vertreibung aus Deutschland in diesen Stunden einen schöpferischen Sinn erhielt. Ich entdeckte ein wunderbares, von der westlichen Pest unberührtes Land!“, schrieb Philipp Schwartz. Bereits drei Monate nach der Gründung der Notgemeinschaft, im Juli 1933, wurden von türkischer Seite die ersten 30 Anstellungsverträge mit deutschen Wissenschaftlern unterzeichnet. Eine historische Paradoxie: vom gejagten zum gefragten Menschen.

In der Erklärung des damaligen türkischen Unterrichtsministers Resid Galip vom 6. 7. 1933 heißt es: „Dies ist ein außergewöhnlicher Tag, an welchem wir eine beispiellose Tat verbringen durften. Als vor 500 Jahren Konstantinopel fiel, beschlossen die byzantinischen Gelehrten, das Land zu verlassen – man konnte sie nicht zurückhalten. Heute haben wir uns vorbereitet, von Europa eine Gegengabe zu empfangen. Wir erhoffen eine Bereicherung – ja, eine Erneuerung unserer Nation.“

Der Status der Wissenschaftler – ob im Exil oder im Gefängnis – spielte für die türkische Regierung keine Rolle; sie mussten sich lediglich verpflichten, ihre Vorlesungen auf Türkisch abzuhalten und türkische Lehrbücher in ihrem Fach zu publizieren.

So galt das Exil Türkei zunächst als Wartesaal erster Klasse: Die türkische Regierung bezahlte den Umzug, bot eine feste Anstellung bis zu fünf Jahren und gab bis 1938 rund 5 Millionen Reichsmark für die prominenten Emigranten aus. Allerdings war es ihnen untersagt, sich politisch zu betätigen (dies gilt bis heute für Lehrkräfte und Studenten in der Türkei).

Doch die Gemeinde der deutschsprachigen Emigranten, verteilt auf Ankara, Istanbul und eine kleine Zahl in Izmir, bestand nicht nur aus Akademikern und Künstlern. Auch Auswanderer, die nicht so prominent waren, sich um Arbeit selbst kümmern mussten und nach Ausbruch des Krieges ständig Gefahr liefen, ausgewiesen zu werden, gehörten zu den in der Türkei Exilierten. So kamen auch Gewerbetreibende und Handwerker wie zum Beispiel Eduard Bischoff auf eigene Faust in die Türkei. Bischoffs Sohn, Cornelius Bischoff, war, wie viele andere Emigranten oder deren Nachkommen, anlässlich der Ausstellungseröffnung „Haymatloz“ zum Zeitzeugengespräch nach Berlin gekommen.

Sein Vater reiste schon in den Zwanzigerjahren als wandernder Zimmermannsgeselle nach Istanbul, Zonguldak und Ankara. Auf seiner Wanderschaft in der Türkei lernte er auch seine spätere Frau – eine spanische Jüdin – kennen, die er in Istanbul heiratete. Kurz vor Kriegsausbruch 1939 bekam Bischoff von den Nazis eine offizielle Ausreiseerlaubnis, weil er angegeben hatte, eine Erbschaftsangelegenheit seiner Frau in Istanbul regeln zu müssen. 1939 ging er von Hamburg nach Istanbul und holte ein Jahr später seine Familie nach: „Und da der Führer so kurz vor dem Krieg Devisen brauchte, sind meine Mutter, meine Schwester und ich von Hamburg über Paris, wo meine Großmutter lebte, über Marseille nach Istanbul gekommen. Allerdings hatten wir kein Visum für die Türkei. Dafür aber einen Pass von 1936“, so Cornelius Bischoff, Übersetzer des Schriftstellers Yasar Kemal, in der Akademie der Künste. Jahrelang arbeitete Eduard Bischoff als Bauführer bei einer schweizerisch-englischen Baugemeinschaft, die Öltanks konstruierte. Cornelius Bischoff war damals gerade 11 Jahre alt. Mit 20 Jahren kehrte er mit seiner Familie nach Deutschland zurück. „Die Jahre in der Türkei möchte ich nicht missen“, sagt er heute. „Ich hatte viele einheimische Freunde – nicht nur Türken, sondern auch Griechen, Armenier und Juden. Minderheiten, die damals für eine internationale Stadt wie Istanbul normal waren. Gemeinsam mit ihnen habe ich dann später die Sankt-Georg-Schule in Istanbul besucht. Auch das war das reinste Völkergemisch.“

Als Deutschland 1944 der Türkei den Krieg erklärte, wurden die Bischoffs im anatolischen Çorum interniert, weil sie sich weigerten, nach Deutschland zurückzukehren. Die Internierung betraf in erster Linie Juden, Staatenlose und solche, die keine staatliche Anstellung hatten.

Insgesamt gab es für die deutschen Flüchtlinge in Anatolien drei Internierungslager: Kirșehir, Yozgat und Çorum. Die aus der Internierung nach Ankara oder Istanbul zurückgekehrten Flüchtlinge erhielten keine Arbeitserlaubnis mehr. Bis zu ihrer Weiterwanderung lebten sie meist von Hilfsgeldern internationaler Flüchtlingsorganisationen.

An Bischoffs und anderen Biografien wie der von Traugott Fuchs (1911–1997), der als einer der wenigen in der Türkei blieb und auch dort starb, wird deutlich, wie viel schwieriger das Überleben in der Türkei für diejenigen war, die nicht zu den so genannten Prominenten gehörten. Während die Bildungselite abgesichert war, es für sie Sonderkonditionen für Aufenthaltsgenehmigung und damit die Passverlängerung gab, waren die kleinen Leute dem Wechselbad der deutsch-türkischen Politik ausgeliefert. Ihnen drohte – sofern sie jüdisch waren – zeitweilig eine „individuelle“ Ausweisung oder aber die Internierung.

Die Emigranten nannten sich ironisch „Deutsche Kolonie B“, weil sie in der Türkei auf die „Deutsche Kolonie A“, zirka 250 Reichs- und Volksdeutsche, darunter 50 Parteigenossen, trafen. Die Deutsche Botschaft sorgte dafür, dass diese vom neuen Brauchtum der Volksgemeinschaft nicht ausgeschlossen blieben. Regelmäßig lud sie – wie im Reich üblich – zum „Eintopfessen“ ein. Auch vergaß man nicht, eine Liste der für Volksgenossen verbotenen Lokale und Geschäfte zu erstellen. Emigranten wurden bespitzelt: Mit dem Hinweis auf „kommunistische Überzeugungen“ versuchte man ihre Entlassung und Ausweisung zu erreichen.

So versuchte der lange Arm der Nazis, der bis zum Bosporus und einer Hitlerjugend in Istanbul reichte, zudem von manchen Emigranten wie Erich Auerbach und Bruno Traut eine „Reichsfluchtsteuer“ zu bekommen. Ihre Lebensbedingungen hingen von der Stelle ab, die sie gefunden hatten, verschlechterten sich aber Ende der Dreißigerjahre. Ab 1938 verlangten die türkischen Behörden von Reichsangehörigen, die einreisen wollten, einen „Ariernachweis“. Ein Jahr später wurde ein neues Aufenthaltsgesetz beschlossen, das Staatenlosen die Einreise und den Aufenthalt in der Türkei untersagte und ihre Abschiebung ermöglichte. Im Februar 1942 schleppte die türkische Marine das überfüllte Schiff „Struma“ aus dem Hafen von Istanbul auf die offene See. Die jüdischen Flüchtlinge an Bord hatten kein Einreisevisum für Palästina erhalten und ihr Glück in Istanbul versucht. Das Schiff sank, und die mehr als 700 Passagiere ertranken. Ismet Inönü, der damalige Nachfolger von Atatürk: „Wir können nicht all denen Asyl geben, die kein anderes Land haben will.“

Insgesamt blieben nach dem Krieg von den 1.000 Auswanderern nur 28 in der Türkei und lediglich 10 der 1.000 stellten einen Einbürgerungsantrag – darunter vier jüdische Emigranten. Sechs von ihnen wurden samt Familie eingebürgert. Acht Personen konvertierten zum Islam. Die Mehrzahl wanderte weiter in die USA und England oder kehrte in die beiden Teile Deutschlands zurück. Das Exilland Türkei war für die Mehrzahl lediglich eine Zwischenstation.

Das Leben deutschsprachiger Emigranten von 1933 bis 1945 in der Türkei ist Thema einer Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste mit dem Titel „Haymatloz“. Die Ausstellung läuft bis zum Februar. Der Katalog kostet 38 Mark. Info: (0 30) 2 81 51 98

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