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„Time comes schnell!“

■ Wir hören das komplette Radioprogramm der Bremer Region an. Im vierten Teil unserer entzückenden neuen Serie „Du und Deine Sender“: Der Offene Kanal Bremen

Nie war so viel Radio wie heute. Noch vor wenigen Jahren mussten sich die einzelnen Zielgruppen noch zu gewissen Stunden vor den Empfangsgeräten versammeln. Doch heute hat jedes Grüppchen seinen eigenen Sender. Geradezu buchtäbliich gilt das für den „Offenen Kanal“.

Es ist immer noch und immer wieder ein kleines Abenteuer, den Offenen Kanal (OK) zu hören. Das liegt nicht nur daran, dass man unversehens im Kulturprogramm von Radio Bremen landen kann, wenn man sein Radio auf 92,5 MHz einstellt. Denn Radio Bremen 2 muss immer dann herhalten, wenn der Offene Kanal nicht genug eigene Sendungen auf Lager hat. Die Welle versorgt den OK ohnehin mit Nachrichten. Das eigentliche OK-Abenteuer ist das OK-Programm selbst, denn es wird von BürgerInnen hergestellt, die ihr von der Verfassung verbrieftes Grundrecht auf Meinung und deren Verbreitung in dieser Form wahrnehmen möchten. Alle BremerInnen können den OK nutzen, um Radio zu machen. Und da wir bekanntlich eine meinungspluralistische Gesellschaft sind, ist das Ergebnis eines solchen Verfahrens entsprechend bunt.

Da versorgt zum Beispiel Hylton Brown, Wahl-Bremer aus Jamaika, sein Publikum mit „conscious music“ – Reggae in seinen wurzelseligen Varianten. Er spielt aber (ungelogen) auch mal Boney M. mit ihrer Version des Klassikers „Rivers Of Babylon“ oder deren Schmachtfetzen „Sun Of Jamaica“, die alles andere als Paradebeispiele eines traditionalistischen Reggae-Verständnisses sind. Aber das ist Brown egal, so lange die Musik „peace, love and harmony in da year 2000“ befördert. Zwischen und auch gern während der Musik singsang-raunzt der Musiker, Gastronom („Little Jamaica“) und Moderator seine Botschaften und ist offensichtlich mit dem Herzen bei der Sache, aber: „my time is coming so schnell“. Und so schnell kommen wieder die Nachrichten, und mit ihnen setzt ein gespanntes Warten auf die nächste Sendung ein. Werden jetzt junge Leute ans Mikro treten, die, so klingt es zumindest, als einziges Konzept verfolgen, eben keins zu haben? Werden es emphatisch vorgetragene Gedichte von Hesse („Seltsam, im Nebel zu wandern“), Sprechübungen für Schauspieler oder in atemloser Folge rezitierte niederdeutsche Lieder sein?

Manchmal dürfen wir ZeugInnen werden, wie jemand versucht, eine telephonische Verbindung zur Glocke herzustellen, während seine Kollegin einen Jan-Gabarek-Titel nicht aussprechen kann, weil sie ihre Brille verlegt hat? Dann wiederum landen wir in einer Sendung, die sich durch nichts von der gängigen akustischen Umweltverschmutzung unterscheidet, außer vielleicht dadurch, dass hier kein Computer Programmfarben errechnet hat. Hier beweisen echte Menschen, dass für die Chartstapete gar kein Computer vonnöten ist. Es gehört ja auch nicht viel dazu, aus dem Pamp der letzten 30 Jahre ein Programm voller Hits auszusuchen, denn dafür gibt es ja Hitparaden.

Nein, auch im OK sind wir nicht sicher vor den Phil Collins' dieser Welt. Das ist wahrscheinlich ein Preis der Demokratie. Und in diesem Fall haben ausnahmsweise alle EinwohnerInnen zumindest die theoretische Möglichkeit, es besser zu machen. Die Technik ist in drei Stunden erklärt, so lange dauert der obligatorische Einführungskurs, der vor den Erhalt einer Nutzerberechtigung gesetzt wurde.

Nach der Aufzeichnung einer Probesendung werden die frischgebackenen RadiomacherInnen schließlich auf den Äther losgelassen. Was dabei herauskommt, schwankt in allen Schattierungen zwischen großartig und grausam und ist deshalb, wie bereits eingangs erwähnt, mit das Spannendste, dem mensch sich beim Radiohören aussetzen kann.

Andreas Schnell

Der Offene Kanal sendet auf 92,5 MHz. Kontakt: Tel.: 35 01 00

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