: „Wir müssen von vorn anfangen“
■ Am Samstag beginnt an der Berliner Schaubühne eine neue Zeitrechnung. Unter der künstlerischen Leitung von Sasha Waltz, Thomas Ostermeier, Jens Hillje und Jochen Sandig will ein junges Team am Lehniner Platz Theater zum Ort der Repolitisierung machen. Dem Publikum stellt es sich mit einem Plädoyer für explizite Zeitgenossenschaft und einen neuen Realismus vor, das die taz hier vorabdruckt
Der Auftrag
Den Theatermachern in Deutschland ist der Auftrag verloren gegangen.
Nach über zweihundert Jahren an der Speerspitze der Aufklärung trauert das Theater seiner in der Folge von 1968 noch einmal neu behaupteten Bedeutung als kritisches Stadt- und Staatstheater nach, denn es findet sich in einer von der letzten Eckkneipe bis zum Bundeskanzleramt völlig entpolitisierten Gesellschaft wieder. Der Kontext klarer ideologischer Fronten, das Denken in Alternativen, ist einer großen Orientierungslosigkeit gewichen. Aufgeregte, mediengerechte Polemik kann nicht darüber hinwegtäuschen: Wir leben in einem diffusen Unbehagen ohne politisches Bewusstsein.
Wir müssen von vorne anfangen.
Es gibt nach wie vor den Wunsch nach einem anderen Leben, nach einem Zusammenleben in wirklicher Freiheit jenseits der Werte und Gesetze ökonomischer Effizienz im neoliberalen Kapitalismus. Ohne Bewusstsein für die Möglichkeit und Notwendigkeit, als Individuen und als Gesellschaft ein anderes Leben als gerade dieses zu führen, lassen sich die Verhältnisse nicht ändern. Das Theater kann einer dieser Orte sein, an denen der Versuch, die Welt neu zu begreifen, sich zu einer gemeinschaftlichen Weltsicht und zu einer Haltung verdichtet. Das Theater kann der Ort einer Bewusstwerdung und damit einer Repolitisierung sein.
Dafür brauchen wir ein im besten Sinne zeitgenössisches Theater, das versucht, von den individuell-existenziellen und gesellschaftlich-sozialen Konflikten des Menschen in dieser Welt zu erzählen. Dramatische Konflikte, wie sie heute in der Realität auftreten und eben nicht wie in der Ständegesellschaft von Schillers „Kabale und Liebe“. Nur so kann das Theater in einer historischen Situation der vermeintlich extremen Freiheit des Einzelnen, innerhalb eines Systems der völligen Unterwerfung unter die Gesetze des Marktes, weiter die Frage stellen: Wie sollten wir eigentlich leben?
Wir brauchen einen neuen Realismus, denn der Realismus arbeitet einem „falschen Bewusstsein“, das heute viel eher eine Bewusstlosigkeit ist, entgegen. Realismus ist nicht die einfache Abbildung der Welt, wie sie aussieht. Er ist ein Blick auf die Welt mit einer Haltung, die nach Änderung verlangt, geboren aus einem Schmerz und einer Verletzung, die zum Anlass des Schreibens wird und Rache nehmen will an der Blindheit und der Dummheit der Welt. Er versucht, Wirklichkeiten zu begreifen und sie zu refigurieren, ihr Gestalt zu geben. Der Realismus will im Wiedererkennbaren Befremden auslösen und erzählt Geschichten, das heißt, eine Handlung hat eine Folge, eine Konsequenz. Das ist die Unerbittlichkeit des Lebens, und wenn diese Unerbittlichkeit auf die Bühne kommt, entsteht Drama.
Die Verbindung des Theaters zur Welt ist der Autor. In einer Situation, in der das deutsche Ideendrama um verbrauchte Ideen rotiert und altherrenhaft antimoderne Sumpfblüten treibt oder in intellektueller Selbstreflexion und eitler Sprachverliebtheit ohne Idee oder Anliegen einfach nur harmlos ist, brauchen wir Autoren, die ihre Augen und Ohren für die Welt und ihre unglaublichen Geschichten öffnen und schärfen. Die mit dem Kollaps der großen Ideologien und politischen Lager verbundene Explosion verschiedener gleichberechtigter Wirklichkeiten kann sich nur in den unterschiedlichen Weltsichten und Weltentwürfen der verschiedenen zeitgenössischen Autoren, ob im Tanz oder im Schauspiel, widerspiegeln.
Das Ensemble
Die Schaubühne unter der künstlerischen Leitung von Sasha Waltz, Thomas Ostermeier, Jochen Sandig und Jens Hillje soll ein zeitgenössisches Theater sein.
Für uns ist das utopische Moment des Theaters die Idee des Ensembles. Fast vierzig Schauspieler und Tänzer haben sich bereit erklärt, bei einheitlichen und offengelegten Gagen für zunächst zwei Jahre auf Film, Funk und Fernsehen zu verzichten, um mit Choreographen, Regisseuren, Autoren, Musikern, Bühnen- und Kostümbildnern, Dramaturgen, Assistenten, Souffleusen, Inspizienten eine gemeinsame Idee von Theater zu entwickeln und auf der Bühne mit Leben zu erfüllen. Das ist der Ausgangspunkt und das Ziel von „Mitbestimmung“. Der Spielplan der Schaubühne entsteht in einer ständigen inhaltlichen Auseinandersetzung zwischen künstlerischer Leitung, Dramaturgie und Ensemble und im Austausch zwischen Tanz und Schauspiel. Die Schaubühne versteht sich als ein Laboratorium, das im Dialog mit anderen Disziplinen wie Architektur, bildender Kunst, Musik, Literatur und Film an der Entwicklung einer neuen Theatersprache arbeitet.
Tanz und Schauspiel
Die Entscheidung, Tanz und Schauspiel an einem Theater zu gleichberechtigten Partnern zu machen, ist in ihrer Konsequenz einzigartig im deutschsprachigen Raum. Der zeitgenössische Tanz, der sich in den vergangenen Jahrzehnten weltweit als eine innovative und zukunftsweisende Theaterform etabliert hat, wird nun an der Schaubühne eine tragende künstlerische Rolle spielen.
Der Versuch, die komplexe Wahrnehmung unserer Gegenwart angemessen darzustellen, stößt im Sprechtheater an ästhetische Grenzen. Ein körperlich-sinnliches Theater – ob Schauspiel oder Tanz – kann sich dieser Realität annähern. Indem der Tanz seine Geschichten mit dem Körper erzählt, gelingt es ihm, jenseits der Sprache, Erfahrungswelten, die sich der Herrschaft des Logos entziehen, sichtbar zu machen.
Die Vertreter der neuen Generation haben sich von einem hermetischen, ästhetisch zwar hoch entwickelten, aber inhaltlich doch leeren Tanzstil abgewandt. Sie wollen Geschichten erzählen, in denen menschliche Abgründe zu Tage treten und sich die existenziellen Fragen des Lebens stellen.
Die Recherche
Die inhaltliche Mitbestimmung gründet auf eine ästhetische und eine soziologische Recherche, die das Ensemble betreibt, um sich mit der eigenen Wirklichkeit und der gesellschaftlichen Realität künstlerisch auseinander setzen zu können. DasH auptinteresse der neuen Schaubühne ist auf neue Dramatik und zeitgemäßes Erzählen gerichtet. Den Anfang bilden Stückaufträge an Autoren und die Entwicklung der Stücke mit den Dramaturgen, Autoren und Schauspielern. Darüber hinaus werden alle eingesandten Stücke gelesen und besprochen.
Die Stücke und Projekte werden von der Dramaturgie dem Ensemble vorgestellt und gemeinsam gelesen und diskutiert. Das Ensemble hat das Recht, einen von der künstlerischen Leitung formulierten Vorschlag für eine Inszenierung, also ein Stück, einen Autor und einen Regisseur, zurückzuweisen – und die Pflicht, einen Gegenvorschlag zu machen. Dieses Recht auf ein konstruktives Veto ist als „Notbremse“ und als positiver Katalysator für eine zielgerichtete und engagierte Diskussion zur Entwicklung des Programms einer Spielzeit festgeschrieben worden.
Und so trägt das Ensemble nach drei erhitzten Ensembleversammlungen und kontroversen Debatten die risikoreiche Entscheidung mit, Lars Noréns „Personenkreis 3.1“ als erste Schauspielpremiere an der neuen Schaubühne herauszubringen. Sie weist den Wunsch von Thomas Ostermeier, einen Feydeau zu machen, nach einer Lesung und Diskussion zurück und wünscht sich von der Dramaturgie, eine zeitgenössische Komödie von feydeauschem Format zu finden oder schreiben zu lassen. Ein Risiko.
Das Ziel
Das alles dient dem Ziel, neben dem interessierten traditionellen Publikum der Schaubühne neue Zuschauer zu gewinnen, die längst nicht mehr aus bildungsbürgerlichem Interesse ins Theater gehen, sondern sich intuitiv für gut erzählte Geschichten entscheiden, also meistens für das Kino. Dieses Publikum für das befremdliche Erlebnis eines Theaterabends zu begeistern und an ein Theater als sozialen Ort zu binden, muss das Ideal eines zeitgenössischen Theaters sein. Und wenn sich die verschiedenen Gruppen des Publikums, alt und neu, mischen und es miteinander in einem Zuschauerraum aushalten, um sich unbekannte neue Stücke anzuschauen, das wäre nicht nur für Berlin eine kleine Revolution.
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