: Es ist ganz hell geworden
Im gleißenden Licht der Unvollkommenheit: Albert Camus’ „Fremder“ ist im Theater Zerbrochene Fenster eine fremde Frau
Der Abend endet seltsam. Nach höflichem, keinesfalls euphorischem Applaus bleiben viele Zuschauer sitzen, als liefe nach einem Film im Kino noch der Nachspann. Heidrun Siebert, Regisseurin und Darstellerin, war zuvor mit den Worten „So, für mich ist es aus“ abrupt verschwunden. Davor hatte sie die Geschichte mit dem „Fremden“ erzählt.
Dieser „Fremde“ ist ein vielfach analysiertes Geschöpf, vor 60 Jahren von Albert Camus erdacht. In dessen Roman „L’Étranger“ hatten sich die Erfahrungen des Exils, des Krieges und eines Lebens ohne Gottesglauben geschickt verschränkt. Der Fremde lebt und arbeitet normal, aber ohne die vorgeschriebenen Gefühle wie Ehrgeiz, Liebe und Trauer. Schließlich wird er zum Tode verurteilt für einen Mord, den er grundlos in der Nachmittagshitze am Strand begangen hat. In der Zelle im Angesicht des Todes öffnet er sich „zum erstenmal der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt“ und empfindet ein ewiges Glück. Die letzten Sätze des „Fremden“ gehören zum Schönsten, das je geschrieben wurde.
Im gleißenden Licht, unmittelbar vor den Zuschauern, zelebriert Heidrun Siebert diese Sätze, als würde sie sie soeben erfinden. Es ist der Moment, in dem sie ganz eins mit Camus zu sein scheint, in dem sie sich bedenkenlos seiner absurden Poesie anvertraut. Dann tritt sie zurück und sagt: „Huch, das ist jetzt alles so aus mir herausgesprudelt.“ Und etwas verschämt, erstaunt: „Es ist ja ganz hell geworden.“ Und ratlos: „Was soll ich denn jetzt noch sagen?“
Am Beginn des Abends sitzt sie, die Fremde, an einem Tisch, mit leidendem Gesicht, und redet über den gesundheitsschädlichen Unfug des Rauchens. Sie hustet und sagt: „Rauchen ist erotisch.“ Zwischen diesem ironischen, sich klug vom Roman distanzierenden Anfang und dem hingebungsvollen Eintauchen am Ende bewegt sich Heidrun Siebert sehr frei durch den Camusschen Textkörper. Sie nimmt ihm seinen mediterranen und männlichen Stoizismus und pflanzt ihm eine sehnsüchtige, zartbittere Fröhlichkeit ein. Sie zeigt das Unwohlsein einer Frau in einer gefühlskalten Umwelt. Als sie einmal singt, sehr schön, spielt der Techniker laut „Anarchy in the UK“ ein, und sie sagt: „Ich dachte, du bist mein Freund.“ Als sie den vermeintlichen Freund später zum Essen einlädt, schwenkt sie erwartungsvoll ihr Weinglas, freut sich auf einen sinnlichen Abend, aber er schlingt nur die Service-Pizza herunter und muss dann wieder gehen.
Der Autorin des Abends geht es nicht nur um die persönliche Interpretation eines Romans, sie will auch etwas über den verzweifelt-romantischen Umgang mit den eigenen Träumen erzählen. Sie tut das mit einem sehr bedachten, ruhigen Spiel, viel Persönlichkeit und leuchtend roten Wangen.
Gleichwohl hält sie eine angenehme Distanz zu sich und dem Publikum. Sie gibt sich scheu und mutig, begehrlich und distanziert, bloß und zugeknöpft. Bei aller Offenheit ist sie sich auch ihrer Grenzen bewusst. Sie kokettiert mit der interpretatorischen Geste, und bricht dann ab zu Gunsten eines neuen Moments. Der Abend will ein Rätsel sein. „Bitter? Kaum: es ist diese notwendige Unvollkommenheit, die das Glück spürbar macht“, schrieb Albert Camus im „Mythos von Sisyphos“.
Stefan Strehler
„Der Fremde“, von und mit Heidrun Siebert, im Theater Zerbrochene Fenster, bis 31. 1, Do bis Mo, 20.30 Uhr
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