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In der Ecke ein halb gepackter Koffer

Im Herkunftsland der Familie leben oder in Deutschland bleiben? – Migranten tun sich schwer mit einer bewussten Entscheidung. Mobilitätsberater in Großstädten sollen Entscheidungshilfe leisten ■ Von Marie-Luise Gries

Berufsberatung in einer Hamburger Grundschule. Ayten Arteș, hochintelligent und mit guten Schulzeugnissen, sagt schließlich genervt: „Ich weiß doch gar nicht, ob ich überhaupt in Deutschland eine Ausbildung zu Ende machen kann. Meine Eltern schwärmen immer wieder von der Türkei, und wenn wir tatsächlich eines Tages dorthin gehen – woher soll ich denn wissen, in welchem Beruf ich in der Türkei eine Chance habe?“ Von der Berufsberaterin später darauf angesprochen, reagiert Aytens Mutter nachdenklich. „Es ist wahr: Wir tun immer so, als würden die gepackten Koffer in der Ecke stehen. Und das schon viele Jahre, in denen wir doch geblieben sind.“

Der Traum von der Rückkehr ins Herkunftsland der Familie hindert viele MigrantInnen daran, Integrationschancen in Deutschland aktiv und ernsthaft anzunehmen. Die Bundesausländerbeauftragte Marieluise Beck spricht in diesem Zusammenhang kritisch vom „Mythos der Rückkehr“.

Anruf im Arbeitsamt Karlsruhe: „In zwei Wochen fliege ich in die Türkei. Meine Familie kommt nach, wir wollen dort bleiben. Dafür gibt es doch Geld?“ – Ahmet Özen ist arbeitslos, und ein Freund hat ihm erzählt, sein Vater habe „damals“ viel Geld bekommen, weil er als Arbeitsloser in die Türkei zurückging. Arbeitsberater Müller kennt diese Art Anfragen nur zu gut. Kurzfristig gestellt, die Zelte in Deutschland sind schon abgebrochen, und nun möchte man „Rückkehrförderung“ in Anspruch nehmen, sprich: bares Geld. Müllers Antwort enttäuscht den Anrufer: „Das gibt es nicht mehr.“ Woran sich vor allem Ältere erinnern, ist das Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern, 1983 geschaffen mit dem Ziel „Entlastung des Arbeitsmarkts“. Die „Prämien“paragrafen für zurückkehrende Arbeitslose galten nur kurz: Bis Ende Juni 1984 musste der Antrag gestellt sein. Und solche Pauschalförderung wurde in der Folge nicht mehr eingesetzt.

Vom ursprünglichen „Rückkehrhilfegesetz“ ist heute nur noch der Paragraf 7 übrig geblieben. Er regelt das Recht auf umfassende Beratung ausländischer Arbeitnehmer, die über einen Neubeginn im Herkunftsland der Familie nachdenken. 1997 wurde die Struktur der alten „Rückkehrberatung“ gestrafft und neu organisiert. Im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung bietet die Bundesanstalt für Arbeit seither zwei Beratungssysteme an: Eures-Berater sind für Staatsangehörige der EU-Staaten zuständig, „Mobilitätsberatung“ ist auf ausländische Arbeitnehmer aus den Anwerbeländern außerhalb der EU ausgerichtet. Mobilitätsberatung wird in allen Arbeitsämtern des Bundesgebiets West angeboten, jeweils von einem Arbeits- und einem Berufsberater.

In Berlin, Hamburg, Köln, Frankfurt, Stuttgart und München, sechs Städten mit besonders hohem Ausländeranteil, haben „besonders beauftragte“ Mobilitätsberater eine Sonderfunktion: Sie sollen Anlaufstelle sein für Ratsuchende mit speziellen Fragen, sollen sich als Experten in ihrer „Schwerpunktregion“ einen Namen machen – auch bei externen Institutionen der Ausländerintegrationsarbeit –, nicht zuletzt um potentzielle „Rückkehrer“ bereits frühzeitig auf das Beratungsangebot hinzuweisen.

Kein leichter Job. Wer seine Aufgabe ernst nimmt, muss sich das erforderliche Hintergrundwissen über die Herkunftsstaaten mit zusätzlichem Engagement aneignen. Informationsmaterialien dafür werden im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums erstellt, doch eine Freistellung der BeraterInnen von ihren anderen, den alltäglichen Aufgaben der Arbeits- oder Berufsberatung hält die Bundesanstalt für Arbeit (BA) nicht für notwendig.

Der insgesamt geringe Bekanntheitsgrad und fortbestehende Vorstellungen von längst abgeschafften Rückkehrprämien verwundern in diesem Zusammenhang nicht. Abwanderung aus Deutschland in Richtung Herkunftsland der Familie ist in Deutschland generell kaum Thema. Entgegen weit verbreiteten Auffassungen allerdings stellt der kürzlich erschienene „Migrationsbericht 1999“ dazu fest: „Der größte Teil der ausländischen Zuwanderer lässt sich nicht auf Dauer in Deutschland nieder.“ Zwischen 1959 und 1998 zogen fast 30 Millionen Menschen nach Deutschland, im gleichen Zeitraum wanderten 21 Millionen aus Deutschland ins Ausland ab. Seit 1997 ist der Saldo der Ausländermigration negativ; das heißt, die Abwanderungen waren umfangreicher als die Zuwanderungen. Wenig bekannte Fakten über die ehemaligen Anwerberstaaten: Jedes Jahr verlassen über 45.000 Personen Deutschland in Richtung Türkei, Tendenz: leicht zunehmend (1990: knapp 36.000, 1998: 46.300). Gleichzeitig nimmt die Einwanderung aus der Türkei kontinuierlich ab. (1990 waren es noch 85.000, 1998 noch 49.000 Menschen). Mit Ziel Kroatien melden sich jährlich etwa 20.000 Migranten bei den deutschen Behörden ab, mit Ziel Griechenland oder Portugal jeweils um die 20.000.

Der überwiegende Teil dieser Personen wird in der Statistik als „Ausländer“ erfasst – die meisten von ihnen sind höchstwahrscheinlich „rückkehrende“ Arbeitsmigranten.

Eine der verbreitetsten Annahmen geht davon aus, dass die meisten Rückkehrer Rentner sind, die den Ruhestand im Herkunftsland der Familie genießen wollen. Dagegen spricht, dass nur etwa 3 Prozent 65 Jahre und älter sind. Eine weitere Annahme: Wahrscheinlich haben sie ein festgesetztes Sparziel erreicht, und nun wird ein altes Vorhaben in die Tat umgesetzt. Auch dies ist eine eher populärwissenschafltiche Vermutung, wenn auch weithin anzutreffen. Der aktuelle Migrationsbericht stellt zum Ende des Jahrtausends fest: „Wissenschaftlich ist die Abwanderung aus Deutschland ein vernachlässigter Bereich der Migrationsforschung; es existieren nur sehr wenige Untersuchungen zur Abwanderung und ihren Motiven.“

Integrationsprobleme von Rückkehrern in der Türkei sind hingegen besser erforscht. Es ist davon auszugehen, dass ein großer Teil der Rückwanderer Probleme bei der Eingliederung hat: Als hohe Belastung empfanden 30 Prozent der Rückkehrer den „sozialen Druck“, entstanden aus den Erwartungen des neuen sozialen Umfelds in der Türkei: Rückkehrer sollen erfolgreich sein und sich schnell anpassen. Über die Hälfte der in Deutschland geborenen Rückkehrer hatte Probleme mit der „schulischen Ausbildung“, über 40 Prozent hatten „sprachliche Probleme“.

Arbeits- und Mobilitätsberater Müller in Karlsruhe gehört zu denen, die ihren Beratungsauftrag besonders ernst nehmen. Was kann Mobilitätsberater Müller zum Beispiel Ahmet Özen drei Wochen vor Ausreise bieten? Özen ist arbeitslos und hat auch in der Türkei keine Stelle in Aussicht. Damit entfallen Möglichkeiten für einen Reisekostenbeitrag, Zuschüsse zu Gehalt und Arbeitsplatzausstattung – Förderungmöglichkeiten aus einem der entwicklungspolitisch orientierten Programme, die über die Zentrale Arbeitsvermittlung (ZAV) der Bundesanstalt für Arbeit vergeben werden. Da Özen nur als angelernter Arbeiter gearbeitet hat, wird mit Sicherheit auch die Internationale Arbeitsvermittlung der ZAV keinen Job für ihn beschaffen können. Müller versucht Özen zu einem persönlichen Gespräch einzuladen. Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit in der Türkei sind die Anforderungen an Arbeitnehmer deutlich gestiegen, und Özen solle doch überlegen, ob eine Qualifizierungsmaßnahme in Deutschland für ihn in Frage komme. Das würde eine Verschiebung der Abreise bedeuten und kommt für Özen nicht in Frage. Seine Ersparnisse werden eine Weile reichen, denn er ist überzeugt, dass das Leben in der Türkei auf alle Fälle viel billiger wird als in Deutschland. Das versichert ihm sein Vater „zu Hause“, und bei jedem Anruf verspricht er zudem, dass ihm ja auch die Verwandten helfen werden. Der Vater hat die ausschlaggebenden Argumente für die Entscheidung geliefert: „Willst du denn in Deutschland begraben werden?“ Und, vielleicht noch wichtiger: „Sollen denn deine Kinder deutsch erzogen werden? Dann werden sie uns für immer fremd!“

Wenn die älteren Forschungsergebnisse noch zutreffen, ist dies ein typischer Fall: Es sind eher im persönlichen, familiären Bereich angesiedelte Gründe, die zur Rückkehr führen. Jetzt kann der Berater Ahmet Özen nur noch einige Broschüren zuschicken, mit Informationen über die Sicherung der Rentenansprüche aus Deutschland etwa. Für die Broschüre zu Schule und Berufsausbildung in der Türkei ist es fast schon zu spät. Sie empfiehlt, dass Kinder erst nach Abschluss einer Schulstufe und nach gründlichem Unterricht in Schrifttürkisch wechseln sollten. Immerhin weist sie auch auf eigens geschaffene, von deutscher Seite geförderte Ausbildungsmöglichkeiten für Kinder aus Rückkehrerfamilien in der Türkei hin – in bestimmten Städten, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.

Ayten Arteș, die Hamburger Schülerin, hat dagegen mehr Glück: Auch ihre Berufsberaterin gehört zu den besonders engagierten unter den MobilitätsberaterInnen. Sie weiß: Kinder aus Rückkehrerfamilien haben mindestens ein, zwei Jahre an dem Wechsel zu knabbern: Viele verlieren ein, wenn nicht zwei Schuljahre; ihre Verunsicherung und die Sprachprobleme überdecken sie nicht selten mit demonstrativer Arroganz. Für Eltern und Lehrer wird es dann schwer, an sie heranzukommen. Sie rät Aytens Eltern: Über die Auswanderung in ein für sie fremdes Land, darüber soll Ayten selbst entscheiden. Und dafür ist der einzige Weg: Die Familie wird in Deutschland bleiben, bis die Jüngste ihre Ausbildung beendet hat.

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