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■ beiseiteWilkomirski

Die Geschichte des Binjamin Wilkomirski ist schrecklich. Vor fünf Jahren erschien sein Buch „Bruchstücke aus einer Kindheit 1939–1948“ und erntete internationales Lob. Wilkomirski beschrieb darin die grausamen Erfahrungen, die er im Alter von vier Jahren in Auschwitz und mit dem KZ-Arzt Mengele machen musste.

Doch dann entlarvte 1998 der Züricher Autor Daniel Ganzfried Binjamin Wilkomirski als den gebürtigen Schweizer Bruno Grosjean, der nie im KZ gewesen war, aber ein Geschäft mit dem Holocaust zu machen verstand: sei es aus einer psychischen Derangiertheit heraus, sei es als vorsätzlichen Betrug.

Am Sonntag nun wurde im Kino Arsenal eine BBC-Dokumentation über den Fall Wilkomirski gezeigt. Bei der anschließenden Diskussion waren die Filmautoren Sue Sommers und Wolf Gebhardt ebenso anwesend wie Daniel Ganzfried und Henryk M. Broder.

Der Film stellt den Fall in einem neuen Licht dar: Bei einer Veranstaltung in Los Angeles mit dem noch unbelasteten Wilkomirski waren die Hälfte der Anwesenden ebenfalls Child Survivors, denen nun durch „Bruchstücke“ eine Stimme verliehen wurde.

Auf diese Bedeutung von Wilkomirskis Buches ging man bei der Diskussion im Arsenal allerdings nicht genauer ein. Stattdessen war die Mehrheit der Anwesenden rasch von der Schuld Wilkomirskis überzeugt, vor allem weil man sich um die eigene Anteilnahme betrogen sah. Das Gefühl, betrogen worden zu sein, ist an sich berechtigt, in der Schweiz wird sogar gegen Wilkomirski geklagt, für sich gesehen aber deckt es ein interessantes Moment auf: Wer Anteilnahme nur anhand seines eigenen, beim Lesen nacherlebenden Erschreckens aufbringen kann (Ganzfried merkt an, dass Stellen in dem Buch nah der S/M-Pornographie seien), dem geht es mehr um sein Mit-Leiden als um Analyse: Holocaust wird zur True-Crime-Vorlage degradiert.

Broder versuchte als Moderator darauf hinzudrängen, die Anfälligkeit der jüdischen Organistationen wie auch das nichtjüdische Bedürfnis nach romantisierenden Holocaust-Darstellungen zu untersuchen. Er konnte sich nicht durchsetzen. Ganz im Gegenteil, und darum musste Broder schon bald einen leicht relativistischen Tonfall aus dem Publikum beklagen. So konnte etwa eine Dame, die Broder darauf hinwies, dass hier im Raum bestimmt keine Auschwitz-Leugner seien, sich anschließend nicht mit der Anmerkung zurückhalten, ob denn die anderen Child Survivors bei der Veranstaltung in Los Angeles „tatsächlich“ welche seien: „Zweifel müssen erlaubt sein.“

Der Holocaust wurde auch im Arsenal zu einer Angelegenheit des Rechenschiebers. Aus dieser Atmosphäre von Relativismus ließ sich die Diskussion nicht mehr herausziehen. Broder brach die Diskussion schließlich ab. Mit der Begründung, die Luft im Saal sei verbraucht.Jörg Sundermeier

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