: Als Gegenwart wurde, was Zukunft gewesen
■ Die aktuelle Krise wird die CDU nicht zerstören. Sie dürfte aber die Ära beenden, in der die CDU die Staatspartei der Bundesrepublik Deutschland war. Diese Ära war anfänglich geprägt vom Misstrauen gegen den Staat, später von Pragmatismus und Angst vor der Intellektualität bei SPD und Grünen
Die Frage, ob die CDU noch zu retten sei, kann mehr sein, als nur eine rhetorische. Zunächst ist zu fragen, was hat die Partei durch die Verfehlungen von Einzelpersonen und ihrer Seilschaften in die üble Lage gebracht, in der sie sich jetzt befindet. Bei großen Gruppen sind es ja oft die Stärken von ehedem, die, wenn sie unzeitgemäß geworden sind, zur Belastung werden und schlimme Entwicklungen begünstigen.
Bei der CDU ist mithin zu fragen: Was für ein Verhältnis zum Staat hat sie, in welcher Kontinuität sieht sie sich als Partei, was hat jenes Führungspersonal geprägt, das jetzt – sei es direkt oder indirekt – für das Desaster verantwortlich ist.
Den Katholiken war jeder Staatsfetischismus suspekt
Von den regierenden Parteien der ersten Jahrzehnte der Geschichte der Bundesrepublik hat sicherlich die CDU das am meisten distanzierte Verhältnis zum Staat. Als die CDU gegründet wurde, gab es keinen Staat auf deutschem Boden – und das sollte für einige Zeit so bleiben. Die wichtigsten Gründer der CDU waren Katholiken. Ihnen, den meisten von ihnen, war schon von ihrer Kirchenzugehörigkeit her jeder Staatsfetischismus suspekt.
Erst als die CDU in Gemeinden und Ländern eine feste Größe geworden war, wurde die Bundesrepublik gegründet, erst danach die CDU als Bundespartei. Die CDU prägte die Politik des neuen Staates in hohem Maße. Misstrauen gegen den Staat bestimmte viele Züge des Aufbaus im Innern, zum Beispiel die starke Verankerung des Elternrechts in der Bildungspolitik oder die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
In der Außenpolitik forcierte die CDU bald alle Bestrebungen, die auf die Einbindung der Bundesrepublik im westlichen Bündnis, auf Europäisierung, auf Preisgabe von Souveränitätsrechten hinausliefen. Von der Montanunion bis zum Euro. Die CDU wollte die Wiedervereinigung, aber nicht um jeden Preis. Nie durften nationale Gesichtspunkte ihre Politik im Innern wie im Äußeren beeinträchtigen. Im ersten Jahrzehnt der Geschichte der Bundesrepublik musste sich die CDU und der von ihr regierte Staat als antinational beschimpfen lassen, nicht nur von vielen Sozialdemokraten.
Diese Erfahrung wiederholte sich bei allen Wendungen, welche die Gegner der CDU in den folgenden Jahrzehnten nahmen. Plötzlich stellte die SPD die Wiedervereinigung zur Disposition, die CDU hielt an ihren alten Vorstellungen fest. Willy Brandts Pathos bei seinem Regierungsbeginn, die Beschwörung des eigentlichen demokratischen Anfangs, schnitt tief in das politische Bewusstsein der CDU.
Die Christdemokraten verstanden das als Absage an den Staat, wie sie ihn gewollt hatten. Und als gar ein sozialdemokratischer Minister seinen Genossen vorhielt, sie wollten ja eine ganz andere Republik, fühlten sich viele in der CDU bestätigt. Die bei manchen von ihnen daraus folgende Gleichsetzung von Staat und (CDU-)Partei war – man befand sich damals in der Opposition – nicht als Anmaßung, sondern als Verpflichtung gedacht, diesen Staat zu verteidigen.
In den Siebzigerjahren sprach plötzlich die Linke schlecht vom Staat. In den Kämpfen um die Nachrüstung verschärfte sich in der CDU die Sorge, wenn sie nicht diesen Staat, wie Adenauer ihn mit geschaffen hatte, verteidige, nun um jeden Preis, werde Bonn doch noch das Schicksal von Weimar erleiden.
Rot-Grün realisiert die Kontinuität der CDU-Politik
Hegel leugnet die Zukunft, keine Zukunft wird Hegel leugnen, hat Ernst Bloch einmal gesagt. Der Satz lässt sich auf die CDU übertragen. Aber man muss ihn dafür umkehren, die mehrheitlich katholische, politikskeptische Partei hat mit der Gründung und Gestaltung der Bundesrepublik sichere Fundamente für die Zukunft geschaffen.
Aber als Gegenwart wurde, was zuvor Zukunft gewesen war, hat sie diese verleugnet. Sie hat die Westbindung gewollt und durchgesetzt. Als die Jugend westlich und amerikanisch wurde, war die CDU-Gründergeneration entsetzt. Adenauer und seine Mitstreiter haben den Deutschen politisch tief misstraut. Als dies bei der studierenden Jugend angekommen war – die nun eben ganz anders war als die der Zwanzigerjahre –, war die CDU empört.
In den Siebzigerjahren waren es die Albträume der CDU-Leute, dass Gestalten wie Schily, Fischer oder Trittin in Deutschland einmal etwas zu sagen haben könnten. Das zu verhindern, dazu schien manchem, etwa dem hessischen CDU-Politiker Kanther, fast jedes Mittel recht.
20 Jahre später sind nun zum Beispiel diese drei Minister. Aber, und das übersieht die CDU groteskerweise, 16 Jahre christdemokratischer Regierung haben eine andere Gegenwart hervorgebracht, als es damals eine düstere Zukunft versprach: Fischer könnte der Lieblingssohn Kohls sein, Schily hatte sich als Innenminister offensichtlich Kanther zum Vorbild genommen. Rot-Grün realisiert die Kontinuität der CDU-Politik, die CDU leugnet sie.
Bald fehlte der Partei dasintellektuelle Element
Bei etlichen CDU-Politikern der Ära Kohl war aus anfänglicher Sorge Angst geworden. Noch kein Staat auf deutschem Boden, an den man sich erinnern konnte, war den Katholiken günstig gewesen. Der Staat konnte also immer etwas sein – oder wieder werden –, das sich gegen die CDU richtete. Diese Sorge wurde bei nicht wenigen CDU-Funktions- oder Mandatsträgern wieder zur Angst in den Siebzigerjahren. Wie immer, wenn Angst da ist, geht es nicht um zahlenmäßige Größenordnungen, sondern um spektakuläre Beispiele. Da sah man die jüngeren evangelischen Pastoren schon auf dem Weg über die Sozialdemokratie zum Kommunismus. Da erlebte man die Universitäten als den Ort, von dem einem offene Feindschaft entgegenschlug. Waren das die künftigen Eliten?
Solche Eindrücke, die vielfach zu relativieren gewesen wären, trafen auf Leute, die kaum noch etwas mit der bürgerlich-akademischen Etabliertheit zu tun hatten, die für die Gründergeneration der CDU typisch gewesen und als Honoratioren bespöttelt worden waren. Seit Mitte der Sechzigerjahre waren Akademiker der CDU eher fern geblieben. Bald fehlte der Partei das (konservative) intellektuelle Element. Die SPD wurde heuchlerisch dafür bedauert, dass sie so viele Intellektuelle habe. Auf der mittleren Ebene der Mandatsträger schien sich das Verhältnis umzukehren: Gebildete bei der SPD, handfeste Typen bei der CDU. Das war die Partei, deren Vorsitzender Kohl wurde und 25 Jahre lang blieb. In dieser Partei konnte sich der Gedanke zu praktischem Handeln fortentwickeln, nach dem der Staat, den alle (?) wollten, nur mit der CDU bewahrt werden könne, ohne die CDU aber verloren sei. Immer noch sehen die meisten CDU-Politiker im Staat keine Schicksalsgemeinschaft – glücklicherweise –, sondern eine auf Zweckmäßigkeit angelegte Organisation mit Regeln und Sanktionen, bei der es zunächst um den Einzelnen, erst danach um das Gesamtergebnis geht, das aber in der Bilanz schwarze Zahlen aufweisen muss. Um die zu erreichen, gilt keine Moral – die gilt für den Einzelnen und zum Schutz des Einzelnen –, sondern in der Politik von Staats wegen gilt wie im Sport: Foul ist, wenn der Schiedsrichter pfeift.
Die CDU-Krise wird die CDU nicht zerstören. Wohl aber dürfte sie die Ära beenden, in der die CDU die Staatspartei der Bundesrepublik Deutschland war.
Jürgen Busche
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