piwik no script img

Auch Rudi Dutschke wohnte mal im Dorf

■ Das Studentendorf Schlachtensee ist für viele Lernende mehr als nur eine Siedlung mit Studentenbuden: nämlich ein Dorf für selbst bestimmtes Lernen und Wohnen. Da macht ihnen selbst der marode bauliche Zustand nichts aus. Deshalb wehren sie sich gegen den Abriss ■ Von Rolf Lautenschläger

Ist das ein Leben? Die Gebäude sind marode. Die Zimmer sind klein, gerade einmal neun Quadratmeter im Durchschnitt und hellhörig dazu. Wer auf die Toilette geht oder sich duschen möchte, muss über den schmalen Flur, Waschbecken fehlen in der Bude. Die Gemeinschaftsküchen mit dem spröden Charme eines Wartesaals haben große Flächen, dummerweise stehen sie offen zum Treppenhaus. Kommt jemand in das Haus herein, weht ein kalter Wind über die Kochnische. Steigt jemand die Stiegen hinauf, hallt es im ganzen Haus. Ist das ein Leben, ein Studentenleben?

Es ist. Ellen Hentschel wohnt seit drei Jahren im Studentendorf Schlachtensee. Und die Psychologiestudentin will davon keinen Tag missen. „Als ich nach Berlin kam, brauchte ich dringend ein Zimmer. Lange suchen konnte ich nicht, weil das Semester begonnen hatte.“

Ellen landete im noblen, grünen Zehlendorf und zog in eines der 23 spartanischen Häuser. Die Miete ist günstig, rund 220 Mark monatlich. Zur Freien Universität Berlin fährt sie 20 Minuten. Wichtiger als das Zimmer ist ihr die Vielzahl der gemeinschaftlichen Einrichtungen, eine Besonderheit des Dorfes: „Wenn mir die Decke auf den Kopf fällt, gehe ich in die Küche, kann dort Leute treffen und mich unterhalten.“ Andere Anlaufstellen für sind der „Club“, das Fitness-Center, das Fotolabor, der Musik-, Computer- oder Theatersaal – oder der Studentenrat, in dem sie mitarbeitet. Und dort sitzt sie derzeit täglich.

Seit der Senat die denkmalgeschützte Studentensiedlung schließen will und in weiten Teilen zum Abriss freigegegen hat, um das 55.000 Quadratmeter große Grundstück mit 1.000 Wohnungen an einen privaten Investor zu veräussern, herrscht im Büro der „Selbstverwaltung des Studentendorfs Schlachtensee e. V.“ Dauerstress. „Das Fax-Gerät läuft heiß“, meint Jörg Müller, Vorstand in der Selbstverwaltung. Telefone klingeln, Interviewtermine werden verabredet, Politiker „genervt“, Protestschreiben verschickt und Baugutachten geprüft.

Besonders sauer sind Ellen und Jörg auf Bausenator Peter Strieder (SPD), der sich vor der Wahl im Oktober 1999 noch für den Denkmalschutz stark gemacht hatte und jetzt das Dorf bis auf 6 Häuser zum Abriss freigegeben hat. Es sei „unbegreiflich“, klagt Müller, dass Strieder und Kultursenatorin Christa Thoben (CDU) erklärten, für Schlachtensee bestehe kein Bedarf mehr. Ebenso falsch sei die Behauptung, das Dorf stehe leer und das Grundstück habe nur einen Wert von 23,5 Millionen Mark.

Müller legt Fakten auf den Tisch: „Fast die Hälfte der Wohnheimplätze in FU-Nähe befinden sich hier. Zum Wintersemester hatten wir eine Belegung von 100 Prozent. Und ein Verkehrsgutachten hat für die Immobilie einen Betrag von rund 55 Millionen Mark ermittelt.“ Die genannte Summe von 23,5 Millionen Mark diente nur dem Zweck der „Verschleuderung“ an einen interessierten Investor, der dafür dem Land ein Museum realisieren wollte.

Und noch etwas komme hinzu, sagt der Student. Bei einer Schließung des Dorfes, das überwiegend von ausländischen Stipendiaten genutzt wird, drohe denen die Verlegung in östliche Stadtbezirke, „wo sie sich nicht sicher fühlen“. Fitsum Eshetu, ausländischer Student, präzisiert das. Bei einer Umsiedlung in problematische Bezirke seien „ausländerfeindliche Übergriffe“ nicht auszuschließen.

Ein Argument des Senats, dass das Studentendorf aus den 50er-Jahren marode und unwirtschaftlich sei, teilen die Studenten. Derzeit muss das Studentenwerk rund eine Million Mark jährlich zuschießen. Allerdings folgern die Studenten daraus nicht, einem Abriss das Wort zu reden, sondern fordern die Sanierung.

Die hatte das Land selbst schon einmal im Visier. Die von den Architekten Fehling, Pfankuch und Gogel 1957 errichtete Siedlung aus kreisförmig angeordneten zwei- und dreigeschossigen Bauten im Stil der Nachkriegsmoderne – in der auch Rudi Dutschke zeitweise wohnte und die Treffpunkt der 68er-Revoluzzer war – litt schon früh unter Bauschäden, undichten Dächern und Fenstern und zu kleinen Räumen. Im Jahr 1987 entschied der Senat, die Sanierung und den Neubau einiger Häuser vorzunehmen. 4 Millionen Mark als erste Rate wurden bewilligt.

Der Fall der Mauer machte diesen Bestrebungen ein Ende. Statt Finanzmittel für Westberliner Wissenschaftseinrichtungen einzustellen, pumpte das Land die Gelder in Institutionen Ostberlins. Schlachtensee ging leer aus und verfällt seit 1989 peu à peu. Heute wird der Sanierungsbedarf auf 100 Millionen Mark geschätzt.

Während der Senat genau die schlechte Bausubstanz zum Anlass für die Schließung und den Verkauf nimmt, pochen die Studenten gemeinsam mit Denkmalschützern, Architektenverbänden, dem Werkbund und der Akademie der Künste auf der Rettung des Denkmals. Das Studentendorf, urteilt der Ex-Direktor der IBA-Alt und Architekt Hardt Waltherr Hämer, bilde „eine Besonderheit in der Berliner Nachkriegsarchitektur“. In ihm spiegle sich der bauliche Anspruch auf „demokratisches, selbst bestimmtes“ Lernen und Wohnen: genau jene Vorteile, die etwa Ellen Hentschel durch die Präsenz der Gemeinschaftseinrichtungen und Treffpunkte so schätzt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen