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Könner auf zu kleinem Feld

■ Friedrich Gulda, der Exzentriker am Klavier ist tot. Er gehörte zu einer Generation, die das Virtuosentum des 19. Jahrhunderts als Mythos enttarnte – und neue Mythen schuf. Als Grenzgänger zwischen Klassik und Jazz wehte ihm der Wind von links und rechts um den Kopf

Das Österreich-Hassen gehört wohl zum Beruf des Österreicher-Seins – siehe Thomas Bernhard, siehe Elfriede Jelinek. Auch Friedrich Gulda, 1930 in Wien geboren, war seinem Land in Hassliebe zugetan. Zu Bewusstsein und Selbstbewusstsein gelangte er in den politisch turbulenten Vierzigerjahren, die nach Nazi-Anschluss und Kriegsbeteiligung die Besatzungsherrschaft und dann Neutralität bescherten. Kulturell und ästhetisch waren diese Jahre eine Zeit der heftigen Brechungen – und Gulda kräftig dabei. Mit raschem Kopf und schnellen Fingern eignete sich der Hochbegabte auch die technisch schwersten Werke der Klassiker in kurzer Zeit an. Und als Jazzer drückte er bald neu gewonnene Freiheitsgefühle aus.

Wirklich zufrieden gemacht hat ihn seine Laufbahn nicht. Was ihn in der Mitte des Künstlerlebens zunehmend verdross, war die mangelnde Resonanz auf seine Kompositionen und seine Anschauungen, wie er sie 1971 im Buch „Worte zur Musik“ dargelegt hatte. Insbesondere war ihm die Kritik, die er Häme über sein Werk ausgießen sah, eine fortdauernde Anfechtung. Guldas Abwehr kulminierte in dem Ansinnen, der schreibenden Zunft – und insbesondere der innig gehassten österreichischen Kritikerschaft – möge für den Fall seines Ablebens das Publizieren von Nachrufen untersagt werden.

Im März 1999 unternahm er sogar eine Probe aufs Exempel. Vom Züricher Flughafen Kloten aus ließ er per Fax die Nachricht verbreiten, er sei auf der Reise nach Genf einem Schlaganfall erlegen. Der leicht makabre PR-Gag richtete sich auf eine bis dahin nur schlecht verkaufte künstlerische „Auferstehungsparty“ in Salzburg, bei der Gulda dann auch prompt auftrat – mit einem jener Mixture-Programme, die beide Teile seines Publikums seit geraumer Zeit unzufrieden ließen.

Dabei gab es durchaus Gründe, den Ausnahmeklavierspieler, der gestern in seinem Haus am Attersee einem Herzschlag erlag, zu schätzen: wegen seines einst als hochgradig modern wirkenden Zugangs zum „Wohltemperierten Klavier“ von Sebastian Bach, der die motorischen Komponenten hervorhob; wegen der Zurücknahme der Schubertschen Landschaften ins Sachlich-Musikalische; wegen des kühlen, lakonisch-trockenen und die Kontraste ausleuchtenden Beethoven-Spiels, das seine eigene Poesie entwickelte.

Ab den späten Sechzigerjahren stand Gulda mit seinem Internationalen Musikforum in Ossiach, insbesondere dann auch mit den „Tagen freier Musik“ auf Schloss Moosham in Lungau bei Salzburg bei den Alternativ-Musikfestivals an der Spitze. Er setzte Modelle.

Schon als junger Student hat Friedrich Gulda, auch nach eigenen Aussagen, „alles draufgehabt“. Mit vierzehn Jahren – das war anno 1944 – trat er erstmals öffentlich auf. 1946 gewann er den ersten Preis beim Internationalen Musikwettbewerb in Genf. Mit zwanzig galt er schon als sehr berühmt, war weit über die Alpenländer hinaus ein Begriff für das Innovative.

Für die klassische Konzertlaufbahn aber erschien dieser Musiker zu vielseitig interessiert, zu fantasiebegabt, zu sehr erfüllt von eigenem produktiven Ehrgeiz. 1962 stellte sich die Sinnkrise ein. Zur Eröffnung der Berliner Festwochen zelebrierte Gulda mit dem verehrten Karl Böhm noch Beethovens 4. Klavierkonzert, makellos und sensibel; dann sagte der Solist eine Welttournee und alle Konzerte ab, zog sich zurück, machte Jazz und ging auch sonst eigene neue Wege. Wenn er sich „in fünfzig Klavierabende einsperre“, meinte er damals, dann lebe er nicht. Beethoven reiche an die Probleme der Gegenwart nicht mehr heran, eher noch der Jazz.

Gulda begann, Klassik und Jazz-Improvisation zu mischen, mitunter sogar zu mixen und mit eigenen harmlosen Kompositionen zu garnieren. Er ging von nun an seine Gratwanderung; bei der aber, was Wunder, blies ihm der Wind von rechts und links ins Gesicht. Die Jazz-Szene gewann nicht die Überzeugung, dass Gulda ein erstklassiger Pianist ihres Genres sei – und die Hohen Priester der hehren Klassik entdeckten, „dass Guldas Technik um eine Nuance unzuverlässiger scheint als früher“. Joachim Kaiser brachte das Problem auf eine versöhnliche Formel: „Beim Gulda-Hören muss man umlernen, umdenken und, manchmal möchte man sagen, leider: umempfinden.“

Friedrich Gulda gehört zu der Pianistengeneration, die sich von den Virtuosenmythen des 19. Jahrhunderts verabschiedete. Und neue schuf. Dass seine Art, den Bösendörfer oder Steinway zu traktieren, nicht auf gefühlsgeschwängertes Espressivo zielte, sondern nüchtern „Sachverhalte“ darstellte, lag in der Luft der Zeit. Von denen, die er als „reine Notenspieler“ bezeichnete, die Interpreten seines Wiener Umfelds, wollte er sich meilenweit abheben – und er hat sie auch, bis auf Alfred Brendel, hinter und unter sich gelassen. Er hielt „die Trennung von Interpretation und Komposition für eine Degenerationserscheinung“.

Ob Guldas Lebensentwurf, solcher „Dekadenz“ entgegenzuwirken, am Ende aufging, muss bezweifelt werden. Er wird wohl in Erinnerung bleiben als großer Könner auf einem Feld, das ihm als zu klein erschien.

Frieder Reininghaus

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