piwik no script img

Eigenes Leid, fremdes Leid

Beide haben sudetendeutsche Väter, beide setzen sich für die Vertriebenen ein. Der Braunschweiger Oliver Dix, weil er meint, eine Heimat verloren zu haben. Der Münchner Peter Becher, weil er meint, dass Versöhnung mit den Tschechen notwendig ist. Wie kann man sich da begegnen, wenn die eigene Landsmannschaft beabsichtigt, die Bundesrepublik zu verklagen? ■ Von Uta Andresen

Das Abitur ist geschafft. Oliver Dix fährt in die DDR, um die Verwandten in Jena und Dresden zu besuchen. „Das war schon ein spezielles Unterfangen, da fuhr ja niemand hin, nicht in dem Alter.“ Es klingt trotzig, als wäre dies peinlich irgendwie, aber auch die Tat eines Dissidenten, also mutig. Das war Ende der achtziger Jahre, und Oliver Dix schien die Mauer eine „widernatürliche Grenze“.

Das Abitur ist geschafft. Peter Becher fährt nach Frankreich, um Paris zu erobern. Die Gitarre auf dem Rücken, übernachtet bei jungen Leuten, irgendwelchen, die er auf der Straße anspricht. „Es hat funktioniert, so war es in den Siebzigerjahren.“ Es klingt, als staunte er noch heute darüber.

Es sind die Reisen, die den Unterschied in den Leben von Oliver Dix, 32, und Peter Becher, 47, ausmachen. Der eine auf der Suche nach der Familiengeschichte, nach Vergewisserung der eigenen Kultur. Der andere auf der Suche, wie sich eine fremde Kultur mit dem eigenen Lebensgefühl verträgt.

Es sind zwei Reisen, die die Gemeinsamkeit in Oliver Dix’ und Peter Bechers Leben ausmachen. 1945 verließen die alten Dix Tetschen-Bodenbach in Richtung Salzgitter, die alten Bechers Karlsbad in Richtung Starnberg. Genauer: mussten verlassen. Denn die Dix und die Bechers waren Sudetendeutsche, deutschstämmige Bewohner Böhmens, und das fiel nach dem Zweiten Weltkrieg wieder an die Tschechoslowakei.

Diese von Tschechen erzwungenen Reisen sind so etwas wie ein Ausgangspunkt. Von diesem aus und 40 Jahre später kommen die Söhne Oliver Dix und Peter Becher bei den Vertriebenen an. Und „ankommen“ heißt in diesem Fall „sich einsetzen“. Der eine für die Wahrung der Interessen derer, die vertrieben wurden, der andere für den Ausgleich mit den Interessen jener, die vertrieben haben.

Begegnet sind sich Oliver Dix und Peter Becher nie. Politisch schon gar nicht.

Zur Wahrung dieser Interessen gehört es wohl, dass die Landsmannschaft der Sudetendeutschen in den nächsten Wochen Klage gegen die Bundesrepublik einreichen will: weil dieser die internationalen Beziehungen wichtiger seien, als das Recht der Vertriebenen auf Wiedergutmachung; weil diese sich deshalb weigere, die Vertriebenen diplomatisch im Ausland zu vertreten. Zur Wahrung dieser Interessen gehört es wohl auch, dass der Bund der Vertriebenen Entschädigung für die etwa eine Million Zwangsarbeiter unter den Heimatvertriebenen fordert, die nach dem Zweiten Weltkrieg für tschechische oder polnische Firmen arbeiten mussten – just als die Republik die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter diskutiert. Und dass der baden-württembergische Landesvorsitzende des Bundes der Vertriebenen sich in der rechtsextremen Zeitschrift Junge Freiheit überhaupt gegen eine Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter ausspricht.

Zum Ausgleich dieser Interessen gehört es, dass jedes Jahr der Adalbert Stifter Verein einen gemeinsamen Preis an einen Tschechen und einen Deutschen vergibt, die sich um die Verständigung beider Völker verdient gemacht haben. Und zum Ausgleich der Interessen gehört es auch, wenn jemand aus den eigenen Reihen an den Vertriebenenorganisationen Kritik übt, etwa an den jährlichen Pfingsttreffen. Auf denen stets das Recht auf Heimat und Wiedergutmachung beschworen wird.

Wahrung der Interessen. Oliver Dix ist Mitglied des Präsidiums des Bundes der Vertriebenen, des Dachverbandes, der dafür sorgt, dass Deutschlands 15 Millionen Vertriebene nicht in Vergessenheit geraten, nicht ihr Schicksal, nicht ihre Kultur, nicht ihr einstiges Eigentum im heutigen Russland, Polen, Rumänien, Lettland, Litauen, Ungarn oder Tschechien.

Oliver Dix, graues Jackett, kurze Haare, korrekt. Jemand, der einem die Tür aufhält. Jemand, der Sätze sagt wie: „Jugendaustausch ist eine der wichtigsten Maßnahmen der Völkerverständigung.“ Oder: „Statt Aufrechnen muss man zu einem Geben und Nehmen kommen, aber man muss auch mal was nehmen.“ Oder: „Stellen Sie sich vor, Sie könnten nie wieder die Stätte Ihrer Geburt besuchen.“ Oder: „Ich bin gegen übertriebenen Nationalismus. Für alle Funktionsträger ist die Satzung des Verbandes verbindlich.“

Einmal fragt Oliver Dix: „Haben Sie den Eindruck, dass ich besonders emotional bin?“ Emotional. Ein schwieriges Wort für jemanden, der mit 14 Jahren Familienforschung betreibt, der mit 20 nichts lieber tut, als Aussiedlern aus Polen oder Russland Dokumente zu sichten, Anträge auszufüllen, mit ihnen zu Behörden zu gehen. Jemand, der sich nach eigenen Angaben für Verwaltungswesen interessiert. Jemand, der sich selbst als „Sachwalter von Interessen“ sieht. Und vielleicht muss man da ja diese Qualität mitbringen: eine gewisse Emotionslosigkeit, die es erlaubt, komplett mit den Fakten zu verschmelzen, zu ihrem Sachwalter zu werden. Und Fakten sind aus Oliver Dix’ Sicht das Leid der Vertriebenen, nicht das Leid, das den Vertreibern zuvor zugefügt wurde – das sind andere Fakten, um die müssen sich andere kümmern.

Es war in Friedrichshafen am Bodensee, im September, Tag der Heimat. Oliver Dix spricht. Spricht davon, dass Priština in Flammen aufgegangen ist, dass Lehrer vor den Augen ihrer Schüler erschossen wurden, davon, dass die Flüchtlingstrecks im Kosovo denen von vor 55 Jahren wohl nicht so unähnlich waren und dass die Rechte, die für die Vertriebenen heute gelten, auch für die Vertriebenen damals gelten müssen.

Ausgleich der Interessen. Peter Becher ist Geschäftsführer des Adalbert Stifter Vereins, des Vereins, der in München nach Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 ein „fliegendes Büro“ eröffnete, um tschechischen Dissidenten im Ausland zu helfen.

Peter Becher. Ein schmaler, blasser Mann, im Norwegerpullover, die Gesten sparsam, die Stimme leise, versackt bei der Moderation einer Lesung mit dem tschechischen Autor Ivan Klima am Abend zuvor. Peter Becher ist niemand, der sich in Szene setzen müsste, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Das besorgen schon Canetti und Lidice für ihn. Den Schriftsteller zitiert er aus dem Stand. Den Ort erwähnt er beiläufig, wie selbstverständlich, weil er davon ausgeht, dass sein Gegenüber weiß, dass in diesem mittelböhmischen Dorf die SS am 10. Juni 1942 alle Männer erschoss, die Frauen ins KZ deportierte und die Kinder verschleppte, aus Rache dafür, dass tschechische Widerständler wenige Tage zuvor ein Attentat auf den Statthalter Hitlers in Böhmen und Mähren, Reinhard Heydrich, verübten, und das mit Erfolg.

Es gibt zwei Momente, in denen Peter Becher stolz war, richtig stolz. Der eine Moment war am 14. Juni 1990 im Prager Museum, kurz nach der „samtenen Revolution“. Da eröffnete der Oberbürgermeister der Stadt die Ausstellung des Adalbert Stifter Vereins „Drehscheibe Prag“ und sagte, diese Ausstellung gebe dem tschechischen Volk einen Teil seiner verlorenen Ehre zurück. Verlorene Ehre. „Prag war in den dreißiger Jahren die Drehscheibe der Emigranten. An dieses Thema konnten alle positiv anknüpfen: Sudetendeutsche, Tschechen, Deutsche“, sagt Peter Becher. Der andere Moment war 1992. Da fragte ihn der Vorsitzende des tschechischen PEN, ob er nicht Mitglied dieses Schriftstellerverbandes werden wolle. Mensch, PEN, Tschechien. Und ob Peter Becher wollte. „Im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung werden Sie unseren Verein nie vorfinden, aber in Tschechien, da werden wir ganz anders wahrgenommen, viel positiver.“ Das klingt wehmütig, soweit es dieses Feuilleton anbelangt, das Peter Becher schätzt, und klingt dankbar, soweit es die Wahrnehmung jenseits der Grenze anbelangt.

Falls Oliver Dix das Vorwort zum Stifter Jahrbuch 1999 gelesen hat, wird er sich hübsch geärgert haben. Da schreibt doch dieser Becher, die Zeit der Vertriebenenverbände scheine sich ihrem Ende zu nähern. Nur wenige von ihnen hätten es verstanden, auf den europäischen Paradigmenwechsel von 1989/90 zu reagieren. Das Durchschnittsalter steigt, die Mitgliederzahlen nehmen ab. Wer kann denn da noch reagieren? Also Ende, Aus. Und das soll Dix akzeptieren? Das kann er nicht, genauer: das darf er nicht. Denn genau das ist ja sein Job: Dafür zu sorgen, das kein Ende ist mit den Vertriebenenverbänden.

Aber deutet nicht einiges auf das Ende hin? Etwa die sinkenden Zahlen bei den einst hunderttausende starken Pfingsttreffen, die heute vielleicht noch 50.000, vor allem Greise in Trachten, anlocken? Oder die Kürzung der Gelder für die Kulturarbeit der Verbände, entschieden von Kulturstaatsminister Michael Naumann, weil kaum noch emotionale Bedürfnisse zu berücksichtigen seien? Anstatt 46 nur noch 35 Millionen im Jahr? Oder dass die Vertriebenen wohl bald ihre zentrale Gedenkstätte in Berlin erhalten, was ja auch als Zeichen gedeutet werden kann, dass der Laden reif ist fürs Museum? Weil es die, die eine Heimat verloren haben, bald nicht mehr gibt? Vertriebenenfrage geklärt, per Ableben?

Bleibt immer noch knapp die Hälfte von zwei Millionen organisierten Heimatvertriebenen, die zu der so genannten Bekenntnisgeneration gehören, also Nachkommen der einstigen Ostpreußen, Sudetendeutschen oder Schlesier sind. Auf jeden Fall aber zu jung, um heimatvertrieben zu sein.

Wie Oliver Dix, in Braunschweig geboren und aufgewachsen. Wie Peter Becher, in München geboren und aufgewachsen.

Wie kann man sich für eine Heimat einsetzen, die man nie besessen und folglich nie verloren haben kann?

Es sind die Geschichten. Etwa die aus dem Fotoalbum von Großmutter Dix. Die Geschichten vom Urgroßvater, dem Tischler, dessen Haus in Böhmen noch steht. Die Geschichten vom Hof der Großeltern, der in einem „erbärmlichen Zustand“ ist, wie Oliver Dix sagt. Die Geschichten aus einer „herrlichen Landschaft“, wo die Familie Dix über 700 Jahre lebte.

Peter Becher nennt sie Geschichten aus dem verlorenen Paradies. Auch bei Bechers werden sie erzählt. Etwa die von dem Marienmedaillon. Das schenkt ein russischer Offizier im Ersten Weltkrieg Großmutter Becher, die gibt es im Zweiten Weltkrieg weiter an ihren Sohn, der trägt es in der linken Brusttasche. Der Schuss trifft das Medaillon, nicht das Herz, es bleibt ein Lungendurchschuss.

Vielleicht sind es diese Erzählungen, egal, ob Mythos oder Geschichte, die Oliver Dix das Gefühl geben, etwas verloren zu haben: „Wäre der Zweite Weltkrieg nicht gewesen, wäre ich in Tetschen-Bodenbach aufgewachsen. Ich kann mich doch zur Heimat meiner Vorfahren bekennen.“ Oliver Dix hat keine Freunde in Tschechien. Warum auch? In Nordböhmen lebten von jeher Deutsche, und von denen ist ja niemand mehr dort.

Vielleicht sind es diese Erzählungen, die Peter Becher die Gewissheit geben, etwas gewonnen zu haben. „Heimat als kulturelle Identität ist Böhmen, Heimat als Ort ist München. Ich glaube nicht, dass man klare Grenzen braucht für seine Identität.“ Peter Becher hat Freunde in Tschechien, erst vor einer Woche war er dort.

Oliver Dix und aufhören? Warum? Er scheint echt verwundert. Sicher, das, was er mache, sei eine Politik der kleinen Schritte, diese ganze Mühe, die Reden an den Wochenenden, die stundenlangen Telefongespräche, die Interviews, die Sitzungen, das Brüten über Gesetzestexten. Aber aufhören? Es geht doch um „die Pflege und den Erhalt der ostdeutschen Kulturarbeit“, darum, „das schreckliche Erbe der Geschichte“, „Schicksale von Flucht und Vertreibung“ angemessen aufzuarbeiten. Also um „Arbeit für die Zukunft“. Das ererbte Leid von 15 Millionen will schließlich verwaltet sein.

Irgendwann, sagt Peter Becher, kam ihm schon der Gedanke, dieses „böhmische Jahrzehnt“ mal abzuschließen, etwas anderes zu machen. Genug davon, sich mit der Geschichte zu beschäftigen, die seine eigene ist. Es sei mühsam, stets beweisen zu müssen, kein Nachlassverwalter, nicht rechts, nicht revanchistisch zu sein. Und es ist wohl mühsam, der Nestbeschmutzer zu sein.

Nestbeschmutzer? Peter Becher lässt den Oberkörper zurückfallen, wie aufgeprallt. Nestbeschmutzer. In diesen Kategorien denkt er nicht, verbietet er sich zu denken, würde es auch anderen gern verbieten. Sie nennen ihn so, die Leute von der Landsmannschaft. „So ein Wort benutze ich nicht.“ Nein, Peter Becher benutzt Worte wie „Kritiker“, der nach Elias Canetti „der Hüter der Verwandlung“ sei, und wenn Nestbeschmutzer in diesem Sinne gemeint sei, nun ja, dann sei er so einer, weil es Kritiker geben müsse, damit ein System sich weiterentwickle, auch ein System wie die Vertriebenenverbände.

Es gibt eine imaginäre Linie, an der könnten Oliver Dix und Peter Becher sich treffen. Sie heißt „Schlussstrich“.

„Einen Schlussstrich wird es nicht geben. Wir wollen, dass sich die andere Seite zum begangenen Unrecht bekennt“, sagt Oliver Dix.

„Ich bin kein Freund der Schlussstrichdiskussion“, sagt Peter Becher. „Man kann von der tschechischen Gesellschaft erwarten, dass sie sich mit der Vertreibung der Deutschen auseinandersetzt.“

So weit, so gut. Beide auf einer Linie.

Aber dann.

„Dann muss man sich an einen Tisch setzen und über Wiedergutmachung sprechen“, sagt Oliver Dix.

„Dann muss man die Verhältnismäßigkeit sehen. Ich bin überzeugt, dass man nicht Ansprüche stellen, sondern eine Atmosphäre des Vertrauens herstellen sollte“, sagt Peter Becher.

Das war’s. Schon bewegen sie sich wieder voneinander fort, der „Sachwalter der Interessen“ und der „Hüter der Verwandlung“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen