Auftakt zum Partisanenkrieg

Mit ihrem Abzug aus Grosny wollen Tschetscheniens Kämpfer womöglich mehr russische Truppen binden, um sie in einen Guerillakrieg zu verwickeln ■ Von Klaus-Helge Donath

In den Ruinen flanierten damals die Menschen, sie sagten sich: Alles halb so schlimm, wir schaffen es schon, wir allein sind die Herren dieser Stadt

Moskau (taz) – Die Mitteilung der tschetschenischen Kämpfer, sie hätten die Trümmerlandschaft Grosnys verlassen, wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Handelt es sich dabei nur um einen taktischen Rückzug? Wollen die Aufständischen womöglich noch mehr russische Truppen in der unübersichtlichen und verminten Landschaft binden, um ihnen später in den Rücken zu fallen? Sollte sich die Hauptstreitmacht der Tschetschenen gestern aus ihrer Hauptstadt davongestohlen haben, müssten sich die russischen Belagerer die Frage gefallen lassen, ob der Ring, den sie um die Stadt gelegt haben, nicht erhebliche Lükken aufweist. Nach tschetschenischen Angaben haben sich etwa 2.000 Rebellen über Nacht vom Schlachtfeld geschlichen. Ihre Aufgabe sei mithin, einen Partisanenkrieg gegen die russische Armee zu eröffnen. Gleichzeitig gestanden die Rebellen ein, die Generäle Aslambek Ismailow, Chunkarpascha Israpilow und Grosnys Bürgermeister, ein Verwandter des ehemaligen Präsidenten Lecha Dudajew, seien im Kampf gefallen. Der Kommandeur Schamil Bassajew, ein Symbol des Widerstandes, hieß es in derselben Quelle, habe schwere Verletzungen erlitten und müsse sich einer Operation unterziehen. Angeblich in Alchan Jurt, einem Ort, der von den Russen seit längerem kontrolliert wird.

Moskaus Militärs dementierten den Rückzug der Tschetschenen zunächst, räumten dann aber den Abzug einiger hundert Freischärler ein. Sie misstrauten dem geschenkten Sieg – mit Recht. Denn schon einmal, im Januar 1995, übernahm Russlands Armee die Herrschaft in Grosny.

Eingestürzte Lagerhallen, gähnende Fensterhöhlen im immer gleichen bröckelnden Beton, rostige Leitungen und zerfetztes Isolationsmaterial, das im Rhythmus des Windes schaukelt. Verlassene Industrieanlagen, vor denen ohnmächtige Zäune noch symbolisch Wache schieben. Das war 1995, als die Russen nach einer unerbittlichen Schlacht um die Zitadelle des kaukasischen Widerstands ein provisorisches Regime in der Stadt errichteten. Die Zerstörungen am Stadtrand von Grosny gingen indes nicht auf das Konto der Invasoren zurück. Es war das Resultat des galoppierenden wirtschaftlichen Verfalls des Sowjetimperiums und der Tatenlosigkeit des inzwischen verstorbenen tschetschenischen Präsidenten Dschochar Dudajew.

Rund vier Millionen Quadratmeter Wohnfläche legten die russischen Bomben im ersten Kaukasuskrieg in Schutt und Asche, fast Zweidrittel des gesamten Wohnraums. Von den 500.000 Einwohnern waren nur 60.000 während des Feuersturms in Grosny geblieben, ältere Bürger meist russischer Herkunft ohne Verwandte auf dem Lande, wo sie Zuflucht hätten suchen können.

Dennoch berappelte sich das Leben in der tschetschenischen Hauptstadt damals innerhalb weniger Wochen. Auf dem Prachtboulevard, der vom wochenlang umkämpften Präsidentenpalast zum Platz der Freiheit führte, fegten Frauen täglich das Pflaster. Vor den Ruinen der stattlichen stalinistischen Kolonialarchitektur im Zentrum flanierten wieder Menschen, die zurückgekehrt waren und zu sagen schienen: Alles halb so schlimm, wir schaffen es schon, wir allein sind die Herren dieser Stadt.

Und in der Tat herrschten, wo tagsüber Frauen herausgeputzt in Stöckelschuhen durch die Trümmer balancierten, in der Nacht die Kämpfer. Auf dem Platz der Freundschaft schossen unterdessen Hanfpflanzen in die Höhe. Gepflegt und geschont von Invasoren wie Belagerten gleichermaßen. Das Leben hatte etwas Surreales, Cafés öffneten wieder ihre Tore bis zur Sperrstunde gegen 18 Uhr. Auch die Besatzer, entkräftet von der Hungerration der Armee, bestellten Schaschlik, wenn sie es sich leisten konnten. Die Verkäuferinnen bedienten jeden gleichermaßen zuvorkommend. Den Fremden gegenüber machten sie indes keinen Hehl aus ihrer Verachtung für die anmaßenden neuen Herren.

Zwischen den zerstörten Mietskasernen sowjetischer Bauart hatten unterdessen die soliden Backsteinbauten den Bombenhagel wie ein Wunder überstanden. Ordentlich und akkurat gebaute Hofanlagen, wie sie überall in Tschetschenien am Fuße der Berge stehen. Geräumige Gehöfte, die den Großfamilien Platz boten, Viehhaltung erlaubten und einen Gemüsegarten beherbergten. Ihre Besitzer waren autark, der Krieg konnte ihnen nicht viel anhaben. Sie waren es gewohnt, sich widrigen Verhältnissen rasch anzupassen und eine neue Existenz aufzubauen.