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Eine amerikanische Einstellung

■ Einkaufszentren heißen Supermärkte. Riesige Einkaufszentren heißen Shopping Malls. Schon vor dem Bau des Space Parks gibt es auch in Bremen immer mehr davon. Wie Shopping Malls funktionieren, beantwortet Harun Farocki

Der Berliner Filmemacher Harun Farocki gilt als einer der bedeutendsten Film-Essayisten Deutschlands. Der gebürtige Tschechoslowake gehörte 1966 zum ersten Studierendenjahrgang der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, von der er 1968 mit einigen Kommilitonen wegen seiner politischen Aktivitäten verwiesen wurde. Bekannt geworden ist Farocki vor allem wegen seiner filmischen Beobachtungen. Der vorliegende Text ist eine Vorarbeit zu Farockis neuestem Projekt, einem Film über Shopping Malls.

ANYSITE

ist eine elektronische Landkarte. Man gibt die gewünschten geografischen Daten ein, worauf ein Kartenausschnitt erscheint, der mit der Maus zu durchwandern ist. Klickt man eine Stelle an, hat man den Standpunkt für ein Geschäft gewählt, in unserem Falle eine Mall. Nun werden die demografischen Daten der Umgebung verrechnet, es wird ersichtlich, wieviel Kaufkraft im Abstand von einer Meile oder auch 250 Meilen angesiedelt ist. Der Berechnung liegt auch zugrunde, welche Geschäftsangebote es schon gibt und welche Verkehrswege von den Anwohnern bevorzugt werden. Es gibt in den USA schon rund 30.000 Malls, die einander Konkurrenz machen. Immobilien-Firmen haben sich darauf spezialisiert, neue Standorte zu finden, sie überfliegen das Zielgebiet mit dem Hubschrauber. Elektronische Landkarten sind eine militärtechnische Entwicklung und wurden zuerst für die Steuerung von Marschflugkörpern benutzt.

STANDORTE

„Das periphere Einkaufszentrum genügt sich selbst, genau wie die moderne Siedlung oder der Gewerbepark. Es braucht kein Umfeld, in das es sich einbettet, es braucht gerade umgekehrt den Kontrast, das Strukturlose. Es ist der Ort der städtischen Fülle und Dichte in einer ereignisarmen Peripherie. Die Anreicherung mit lokalen Haftpunkten, der Versuch, auf ein Umfeld zu verweisen, wäre nur schädlich. Der Normalfall ist der im Gelände liegende Container, oder eine Kette aneinander gereihter Container, umgeben von Parkplätzen und undefinierter Fläche. Von außen ist nichts zu sehen. Innen ist vollinszenierte Stadt.“(Dieter Hoffmann-Axthelm)

CAP RISK

ist eine weitere elektronische Karte. Sie rechnet die demografischen Daten einer Nachbarschaft hoch, um Vorhersagen über die Kriminalität machen zu können („Crime Prediction“). Es ist für Malls sehr wichtig, dass sie als „sicher“ gelten, dass die hauptsächlich weiblichen Besucher dort weder ein Verbrechen fürchten noch Belästigungen erfahren, etwa von Bettlern.

AUSSEN

Wie schon die Kaufhäuser haben die Malls keinen Bedarf an Fenstern (die Wände beider Bautypen werden zur Ausstellung der Waren gebraucht), so dass es nichts Funktionelles gibt, das die Fassaden gliedern helfen könnte. Die (meist außerstädtischen) Malls in den USA werden mit dem Auto erreicht, deshalb ist das Bauwerk zumeist von mehrstöckigen Parkebenen umgeben. Der billige Baugrund spricht gegen unterirdischen Parkraum, den zudem viele Besucher fürchten. Die größte Mall Nordamerikas, in Edmonton, ist von außen kaum abzubilden, nur eine Luftaufnahme kann sie wiedergeben. Es fehlt den Malls das repetitive Element, das einzeln das Ganze repräsentieren könnte. Auch innerstädtische Malls wissen wenig mit der Fassade anzufangen, die sich bestenfalls stilistisch an die Bauformen der Umgebung anlehnt. Auch im Erdgeschoss, an einer belebten Straße, haben die Malls kaum je Schaufenster. Als gelte es, eine Wahl zu treffen: entweder die Straßenöffentlichkeit oder der Mall-Raum. Vielleicht liegt dem auch die Idee der Verlockung zugrunde, wie bei den Nachtlokalen, die sich dem Blick des Passanten verschließen. Und hat eine Mall eine besondere Außengestalt, so ist diese gänzlich äußerlich. Ein Stararchitekt wie Renzo Piano hat (so in Berlin) über die Innengestalt kein Wörtchen mitzureden. Das Innen bleibt den internen Ingenieur-Architekten der Betreiberfirma überlassen.

EINGANG

Malls haben selten einen eindrucksvollen Eingang. Auch das kann heißen, sie seien sich ihrer Anziehungskraft bewusst und wollten eben dies ausdrücken. Außerdem kommen viele Besucher durch die Hintereingänge von den Parkgaragen. Vor allem: Zu einem eindrucksvollen Eingang gehören Treppen. Und kaum etwas fürchtet der Einzelhandel mehr als Treppen. Es heißt, jede Stufe nach oben koste zehn Prozent Umsatz.

SCHWELLE

Der Mall-Pionier Victor Gruen wollte erreichen, dass die Besucher, kaum hätten sie die Schwelle überschritten, in eine Art Trance fielen. Das ist der sogenannte Gruen-Effekt.

PEOPLE COUNTER

Video-Kameras überwachen die Eingänge, das Gerät wandelt die menschlichen Gestalten in Zahlen um. Wer benutzt zu welcher Zeit welchen Ein- oder Ausgang? Welche Besucher werden zu Käufern?

VERLANGSAMUNG

Wolfgang Preisser vermaß im Labor die Geschwindigkeit der Fußgänger unter Einfluß des jeweiligen Bodenbelags. Er entwarf ein Regelwerk für den Fußgängerverkehr: wie groß muss der Abstand von einem Besucher zum nächsten sein, beim Passieren, beim Überholen. Eine Personendichte wird erstrebt, bei der weder der Eindruck von Enge noch von Leere aufkommt. Für ideal gilt der Abstand, bei dem ein Besucher den nächsten vom Kopf bis etwas über die Knie ins Auge fassen kann, was in der Kinoterminologie mit „Amerikanische Einstellung“ bezeichnet wird.

WOHIN?

Wer in der Wüste geradeaus gehen will, geht tatsächlich gegen den Uhrzeigersinn im Kreis, weil das rechte Bein stärker entwickelt ist. Wer jedoch eine Mall betritt, geht fast stets nach rechts. Jeff Bing erklärt das damit, dass der heutige Fußgänger gänzlich von seinen Autogewohnheiten konditioniert wird. Wer mit dem Auto fährt, wird kaum je die Straßenseite wechseln, dem entsprechend müssen die Angebote einer Stadt gelegen sein. Auf dem Weg zur Arbeit hauptsächlich Frühstücks- und Lunchartikel und kleine Geschenke, die ein wichtiger Bestandteil des Bürolebens sind. Auf der Straßenseite, auf der man heimfährt, können die Kleidungs- und Lebensmittelgeschäfte gelegen sein. Ebenso müssen die Geschäfte in der Mall angeordnet sein, es muss ein Zusammenhang von Bedürfnis und Unterbedürfnis konstruiert werden.

BEFRAGUNG

Gilbram hat die folgende Form der Publikumsbefragung erdacht: ein Beauftragter der Agentur spricht einen Mallbesucher an und bittet, einen Dollar in Münzen zu wechseln. Es zeigt sich, dass zunächst die jungen Frauen am liebsten den jungen Frauen helfen und die alten Männer den alten Männern undsofort. Darüber hinaus hat die Umgebung einen Einfluss. Im süßen Duft eines Bäckerladens sind doppelt so viele Probanden bereit, einen Geldschein zu wechseln. Diese Methode wird angewandt, die Teilambientes einer Mall zu evaluieren.

GILBRAM

hat herausgefunden, dass der Geruch von Essen dem Absatz von Kleidung im Wege ist, der Geruch von Bade- essenzen ist dagegen höchst förderlich. Malls versuchen unbedingt ein, zwei Edel- Badeartikelgeschäfte anzusiedeln und subventionieren sie über die Miete. Überhaupt gilt es, nicht nur umsatzstarke, sondern auch attraktive Läden anzusiedeln. Der Tenant-Mix gilt als eine Kunst, die Mall-Manager sind ständig dabei, ihre Mieter zu rekombinieren. Die Folge der Geschäfte in einer Mall folgt Regeln und transzendiert diese, wie bei der Speisefolge. Gilbran arbeitet als Berater für Malls, die eine negative Entwicklung nehmen. Sein erster Schritt ist oft, zunächst einmal ein paar Gerüste aufzustellen, damit das Bild der Änderung gegeben ist.

ERHEBUNG

Paco Underhill, der ebenfalls als Consultant arbeitet, hängt ein paar Kameras in Malls auf und schneidet über ein paar Tage mit. Im Zeitraffer werden die Besucherströme sichtbar, welche Stellen sie auslassen, wo sie zu schnell passieren, wo sie sich stauen, ohne ein Geschäft in Sichtweite zu haben. Die breiten Straßen, die durch die Malls geführt werden, sind deshalb fast immer mit Hindernissen gespickt: Palmkübel, Sitzgelegenheiten (so plaziert, dass man ein paar Geschäfte im Blick hat). Auch Teppiche oder die Farbgebung des Bodens sollen den Passantenstrom stauen und umlenken.

NIEMANDSLAND

Seit etwa 5.000 Jahren gibt es Städte. Und stets war der Straßenraum jedem zugänglich. Im Florenz der Borgias wurde eine Brücke zum überbauten Fluchtweg der Fürstlichkeiten privatisiert. Seit den siebziger Jahren hat Minneapolis in der Innenstadt ein verzweigtes System von Skywalks, Verbindungsbrücken für die Fußgänger durch die gesamte Innenstadt. Sie sind privat und werden von einem ebenso privaten Dienst bewacht, der unansehnlichen Menschen und Störenfrieden den Zugang verwehrt. Seither sind alle, die über die öffentlichen Fußwege gehen, im Ruch der Asozialität. Auch die Malls mit ihrer synthetischen Urbanität erklären alles Gebiet außerhalb zum Niemandsland.

PALMEN

Fast alle Malls haben Pflanzen, wie ein künstliches Paradies. Viele Pas-santen berühren die Stämme der Palmen und sind erstaunt, eine wirkliche Palme zu fühlen. In Wahrheit berühren sie einen präparierten Stamm. Es gibt einen ganzen Gewerbezweig, der Baumstämme präpariert, so wie man Tiere ausstopft. Diesen scheinlebendigen Stämmen werden konservierte Äste aufgesteckt, die einen Stahldraht in sich haben, so dass man sie nach Wunsch biegen kann.

KUPPEL

Kaum eine Mall ohne die Öffnung zu einer Halle, überkuppelt und oft wie bei den Arkaden verglast. Eine Referenz an das Pantheon in Rom, eine symbolische wie tatsächliche Verbindung von Himmel und Erde.

ACHT SEKUNDEN

braucht der Passant, ein durchschnittlich großes Schaufenster zu passieren. In dieser Zeit muss es der Ausstellung gelingen, die Aufmerksamkeit des Vorbeigehenden auf sich zu ziehen. Deshalb muss der Laden schon mit seiner Fassade und seinen Schriftzügen eine Vorauswirkung erzielen. Tests werden unternommen, in welchem Winkel die Schriftzüge zum Betrachter stehen müssen. Wie soll die Schrift einer Ladenstraße gestaltet sein: möglichst komplex oder möglichst einfach? Laufbilder ziehen am Probanden vorbei, der später niederschreiben soll, welche Worte er sich gemerkt hat.

LABORATORIUM

John Casti von der Uni Santa Fe hat einen Versuchs-Supermarkt im virtuellen Raum aufgebaut. Er erforscht vor allem „impulsive behaviour“: Wie kommt es dazu, dass ein Kunde ungeplant einen Kauf tätigt. Das hat vor allem mit der Anordnung der Ware zu tun, wie ein Gegenstand beim Warten an der Kasse zum Kauf anreizt etc.

PLATZIERUNG

Die Platzierung einer Ware in einem Regal ist eine Kunst wie der Tenant-Mix, die Zusammenstellung der Mieter im Bauwerk. Kettenläden haben einen Spezialisten, der auf einer Bildschirm-Simulation die Regale abrufen kann. Es gelten da viele Grundregeln, etwa, dass der Blick des Menschen von links nach rechts schweift und deshalb dort der höherpreisige Artikel stehen sollte. Unter Umständen kann eine Lücke anzeigen, dass eine Ware begehrt ist, unter anderen Umständen zeigt die übergroße Menge des gleichen Gegenstands das Gleiche an. Die Plazierung wird zentral für ein paar tausend Filialen geplant.

KLEVER KART

ist ein „intelligenter“ Einkaufswagen, so wie man von intelligenten Waffen spricht. Mit ihm wird jeder Supermarkt zur Forschungsstelle für konsumistisches Verhalten. Mittels des Klever Karts lässt sich von jedem Kunden feststellen, wo er mit dem Wagen stehen blieb, welche Waren er in den Wagen lud oder welche er wieder entfernte. Es gibt schon die ersten Warenlager, in denen mittels Tele-scanner jeder Gegenstand geortet werden kann, so leicht, als wäre er un- gegenständlich und adressierbar wie eine Zeichenkonstellation im Computer. Der General, der im Golfkrieg die Logistik organisierte, ging vor ein paar Jahren zum Versand- und Einzelhandels-Konzern Sears. Auch die Firmen, die heute die avancierten elektronischen Verkaufs-Steuerungs-Apparate bauen, haben zuvor militärtechnische Entwicklungen betrieben.

BLICKE

Die Inneneinrichtung eines Ladens muss nach Joseph Weishar, einem Berater und Trainer, so beschaffen sein, dass sie den Blick des Eintretenden strukturiert. Der Blick muss auf eine Ausstellung in der Ladentiefe gezogen werden. Die Füße können dem nicht gleich folgen, sie werden woanders hin gelenkt. Jetzt hat der Kunde sein Ziel vergessen. Er fühlt sich verloren, und der nächste Halt, nach dem er greifen soll, sei ein Kaufakt.

KATHEDRALEN

Es dauerte Jahrhunderte, die Dome in Ulm oder Köln fertigzustellen. Die Zeit der Kaufhäuser währte hundert Jahre, und die Malls sind heute, nach 30 Jahren, in der Krise. Sie werden von Factory Outlets, Category Killer-Shops und vom E-Commerce bedrängt. Man hat die Frage gestellt, warum das Münster in Ulm viel mehr Platz bot als die Stadt Einwohner hatte. Galt es, auch den Toten einen Platz bereitzuhalten? Heute drängt sich die Erklärung auf, dass die Seitenschiffe bei schlechtem Wetter als Marktplätze benutzt wurden. Im 19. Jahrhundert war es die Sexualität, die zur Erklärung fast jeder Frage zu taugen schien. Der Gegenwart scheint es, überall sei ein Marktstand gewesen, überall sei gekauft und verkauft worden – und für Ewigkeiten hätten wir das übersehen.

Im Zuge des momentan zu sehenden Ausstellungsprojekts „Future Perfekt“ über die Zukunft des Space Parks sollte Harun Farocki heute einen Vortrag in der Gesellschaft für aktuelle Kunst (GAK) halten. Die Veranstaltung musste aus Krankheitsgründen abgesagt werden. Stattdessen wird um 20 Uhr der Kunsthistoriker Stefan Römer sprechen zum Thema: „Die Zukunft wird schön – Raumpflege als nachhaltig kulturelle Praxis“.

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