: Mit 120 km/h aufs Nebengleis
■ Neun Tote und zahlreiche Schwerverletzte bei Eisenbahnunglück in Brühl bei Köln. Ursache offenbar menschliches Versagen: Lokführer fuhr trotz Baustelle viel zu schnell
Köln/Berlin (dpa/taz) – „Der Lokführer steht unter schwerem Schock. Er wird stationär behandelt in der Psychiatrie“, so gestern ein Polizeisprecher auf einer nach dem Unglück anberaumten Pressekonferenz. Nach ersten Untersuchungen vor Ort soll der 28-Jährige den fatalen Fehler begangen haben, der am Sonntag um 0.18 Uhr den Nachtexpress D 203 von Amsterdam nach Basel entgleisen ließ.
Von den geschätzten 300 Reisenden im Zug waren gestern bis Redaktionsschluss 9 tot geborgen worden oder ihren schweren Verletzungen erlegen. 10 Personen waren schwerstverletzt, 42 schwer und 44 leicht verletzt, so der Polizeisprecher.
Der Unfallhergang war gestern Abend weitgehend rekonstruiert. Vor Brühl wurde auf einem kurzen Streckenabschnitt an den Gleisen gebaut. Ab der Station Kalscheuren reduzierte der D-Zug sein Tempo deshalb auf unter 40 Stundenkilometer. Lokomotive und Waggons wurden auf ein Nebengleis umgeleitet. Anstatt nun, wie eigentlich vorgeschrieben, das geringe Tempo auch nach Ende der Baustelle zu halten, beschleunigte der Lokführer wieder.
An der Weiche 48 im Bahnhof Brühl geschah es dann: Die Weiche sollte den Zug wieder nach links umleiten. Die Waggons hatten bis dahin jedoch schon auf 122 Stundenkilometer beschleunigt, der Zug sprang aus dem Gleis. Er stürzte eine Böschung hinunter, schrammte an einer Baumreihe entlang durch den Vorgarten eines Hauses. Andere Wagen stellten sich im Bahnhofsbereich von Brühl quer und touchierten die eiserne Bahnsteigüberdachung.
Zwei Sekunden nach dem Entgleisen zeigte der Tacho schon null an, so gestern ein Polizeisprecher. Die Spitze der Lokomotive hatte die Wand eines Wohnhauses durchstoßen und ragte einige Zentimeter in das Wohnimmer eines Ehepaars, das zum Glück jedoch ein Stockwerk höher schlief. Der Balkon des Hauses brach ab.
Viele Reisende verließen sofort den Unglücksort. Den Helfern kamen schon Gruppen von Reisenden mit Koffern entgegen. Das macht es der Bahn AG und den Behörden schwer, genaue Zahlen zu nennen. Bis gestern Nachmittag hatten sich nur 182 der geschätzten 300 Mitfahrenden namentlich gemeldet. 22 Personen aus dem In- und Ausland galten noch als vermisst. Angehörige hatten angegeben, dass sie im Zug seien, sie tauchten auf der Liste mit den 182 Namen jedoch nicht auf. Bahn und Polizei riefen die Zugreisenden deshalb dazu auf, sich bei einem Notruftelefon zu melden. Die Nummern lauten (02 21) 2 29 23-9 47 und -9 48.
Der Zug fährt normalerweise um 20.05 Uhr in Amsterdam los und erreicht Basel um 6.40 Uhr. Er ist vor allem bei jüngeren Reisenden beliebt, so die Bahn. Derzeit seien auch viele Skifahrer in Richtung Alpen damit unterwegs.
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD) ordnete gestern Trauerbeflaggung an allen öffentlichen Gebäuden des Landes an. Er und Bahnchef Hartmut Mehdorn waren gleich am Morgen an den Unglücksort geeilt. Rund 300 Rettungskräfte mit über 30 Rettungswagen und 4 Hubschraubern waren im Einsatz. Schnelle erste Hilfe leisteten Gäste – darunter Ärzte – des Bahnhofsrestaurants.
rem
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen