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Eine neue Religion für ein verrottetes Land

■ Tradition trifft Zeitgeist: Der japanische Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe stellt heute im Literaturhaus sein Lebenswerk „Grüner Baum in Flammen“ vor

Seine Romane und Erzählungen kreisen immer um das gleiche Thema: Es sind die Folgen von Hiro-shima und die globale Bedrohung des Lebens durch einen atomaren Holocaust, der Ekel, die Grausamkeit und die moralische Labilität der Nachkriegsgeneration. Der Literaturnobelpreisträger und das Mitglied der japanischen Friedensbewegung Kenzaburo Oe hält sein Land für politisch, wirtschaftlich und moralisch „verrottet“. Deutlich manifestiert sich diese Haltung in seinen von Schärfe, Zorn und poetischer Kraft gekennzeichneten Werken. Als literarischer Außenseiter vor allem im Westen gefeiert, zählt der Schriftsteller jedoch ganz und gar nicht zu den Meinungsführern in Japan – vielmehr ist er Zielscheibe der Kritik von rechter wie auch von linker Seite.

Vom Schreiben hat ihn das nie abgehalten. In einem veröffentlichten Briefwechsel mit dem Schriftsteller-Kollegen Günther Grass geht er mit dem japanischen Demokratiesystem hart ins Gericht. Mit seinem Lebenswerk Grüner Baum in Flammen liefert der „Dostojewskij der Gegenwart“ (Henry Miller) jetzt die Quintessenz seines Schaffens: ein drei Bände umfassender Roman, der bis zu seiner Vervollkommnung sieben Jahre und anderthalb verbrannte Manuskripte in Anspruch nahm. Die Trilogie, die im Herbst in deutscher Übersetzung bei Fischer erscheint, stellt eine Art Wegweiser auf der Suche nach Trost und Erlösung in einem Land dar, dessen traditionell etab-lierte Religionsformen den Menschen keine wirkliche Basis mehr für Glaube und Identität bieten. Aus einem soziopsychologischen Selbsterhaltungstrieb heraus verlangt das Individuum nach einem Glaubensersatz. Eine Weltanschauung, die sich auf überlieferte Werte, den aktuellen Zeitgeist, Mythologie und Wissenschaft gründet, gebiert eine neue Gottesvorstellung.

Die Rahmenhandlung der Geschichte erzählt von dem in Amerika aufgewachsenen Takashi, der von der „Muhme“, der Mythenerzählerin seines Heimatdorfes, einen Hof erbt. Um den inneren und äußeren Verfall des Dorfes aufzuhalten, erteilt sie ihm den Auftrag, die noch verbliebenen Dorfbewohner in die moderne Landwirtschaft, die zeitgenössische Literatur, die Wissenschaft und die uralten Mythen einzuweihen. So wird Takashi nach und nach die von den Medien mal gefeierte, mal geschmähte Leitfigur einer neuen Religion.

Andin Tegen

heute, 20 Uhr, Literaturhaus

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