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„Es wäre besser, wenn die Hälfte der Kinder Deutsche wären“

Die Veddel: Ein Stadtteil, in dem man gut klar kommt, ohne Deutsch zu sprechen. Schule allein kann hier keine Abhilfe schaffen  ■ Von Silke Langhoff

Eine rote „Nixe“ liegt im Müggenburger Zollhafen. Qualmende Industrieschornsteine auf der Peute heben sich im Osten vom Himmel ab, hinter den westlich gelegenen S-Bahn-Gleisen überwintern die Lauben des Kleingartenvereins „Hoffnung“. Vier- bis sechsgeschossige Backsteinbauten, bestückt mit zahllosen Satellitenschüsseln, prägen die Siedlung südlich der Elbbrü-cken. Das denkmalgeschützte Gebäude der Grund- und Hauptschule Slomanstieg fügt sich nahtlos ins Stadtbild der Veddel ein. Nur die Satellitenschüsseln fehlen, statt dessen schmücken selbstgebastelte Figuren die Fenster.

Die Kinder der Klasse 1c sitzen im Kreis. Eine grüne Drachen-Handpuppe macht die Runde, wer sie bekommt, darf erzählen, was er am Vortag gemacht hat. Eduard überlegt eine Weile, bevor er langsam sagt: „Ich habe getobt, und dann habe ich gespielt, mit meinem kleinen Bruder.“ Vor dem Sprechen muss er überlegen, um die richtigen Worte und Formulierungen zu finden: Eduard stammt aus Kasachstan und ist als sogenannter Russlanddeutscher eines der zwei Kinder in der Klasse, die einen deutschen Pass besitzen.

Sechs von 60 Kindern, die im vergangenen Jahr eingeschult wurden, sind deutsche StaatsbürgerInnen; zehn Prozent, die auch dem durchschnittlichen Anteil in der Schule entsprechen. Was allerdings wenig über deren Fähigkeiten aussagt, Deutsch zu sprechen. Die siebenjährige Ivy aus Ghana kann sich recht fließend mit ihrer Lehrerin darüber auseinandersetzen, ob sie ihr den gerade ausgefallenen Milchzahn überlässt oder nicht.

Der kleine grüne Drache wandert weiter. Das Rede- und Antwort-Spiel dient nicht nur der Sprachübung, sondern auch dem Zuhören, dem Wecken von Interesse, dem Kennenlernen.

Nach einer Stunde werden die Kinder in der Sitzrunde zappelig – die Luft ist raus. Um die dreht sich alles in der anschließenden Projektphase. Die PennälerInnen versuchen, jede Menge grüner, gelber, roter und blauer Luftballons kaputt zu bekommen. Ömer und Ramazan debattieren auf Türkisch, warum der gelbe Luftballon, auf den sie gerade ein großes Buch pressen, nicht endlich knallt. Als Sergej dazu kommt und behauptet: „Ich schaffs“, beratschlagen die drei sich auf Deutsch. Kein Ballon geht an diesem Morgen kaputt.

„Bei mehreren unterschiedlichen Sprachen einigen sich die Kinder automatisch darauf, Deutsch zu sprechen“, weiß Klassenlehrerin Astrid Schäfer. Zwölf der 22 Kinder in der 1c haben einen türkischen Pass, die anderen kommen aus Albanien, Polen, Russland, Ghana, Afghanistan und Deutschland. „Eine bunte Mischung, die leider nicht in allen Klassen zu gewährleis-ten ist“ bedauert sie. Durch ablaufende Aufenthaltsgenehmigungen sowie häufige Zu- und Wegzüge sei die Zusammensetzung in den Klassen unstet.

Mit offiziell rund 64 Prozent seiner gerade mal 4800 Menschen zählenden Bevölkerung hat Veddel den höchsten AusländerInnen-Anteil in Hamburg. Inoffiziell liegen die Schätzungen wesentlich höher. Allein circa 80 Prozent der SchülerInnen in der Schule Slomanstieg sind Kinder türkischer Eltern.

„Na und?!“ formuliert Renate Reich betont energisch. Die Schulleiterin wehrt sich gegen das Klischee, das viele AusländerInnen mit sozialen Problemen gleichsetzt. Das Klima an der Schule sei wesentlich besser als an anderen Schulen, an denen sie gearbeitet hat, auch wenn dort der Anteil deutscher Kinder wesentlich höher war.

Doch nicht nur deutsche Paare ziehen es vor, in Stadtteile mit einer gemischteren Bevölkerungsstruktur zu ziehen, wenn die Kinder schulpflichtig werden. Auch viele bildungsorientierte türkische Eltern sehen durch fehlende deutsche Sprachpraxis die Aufstiegschancen ihrer Kinder gefährdet und möchten sie lieber auf eine Schule schicken, an der mehr deutsche und damit auch deutsch-sprechende Kinder sind.

In der Elb-Enklave Veddel zwischen Gleis- und Hafenanlagen, Schnellstraßen und Industriegebiet hat sich ein starkes türkisches Gemeinwesen herausgebildet. Lebensmittelläden, Kioske, Cafés – alle türkisch, dazwischen ein deutscher Bäcker. Man kommt gut klar, ohne Deutsch zu sprechen. Die Schule allein kann hier keine Abhilfe schaffen.

„Es wäre sicher besser, wenn die Hälfte der Kinder Deutsche wären“, glaubt auch Erhan Uyanik, dessen Sohn und Tochter auf die Grundschule gehen. „Die Schule gibt sich aber alle Mühe, Deutsch zu fördern“, betont der 30-jährige Arbeiter, der im Elternrat aktiv ist. Vor rund drei Jahren haben Schulleitung und LehrerInnen in Zusammenarbeit mit dem Elternrat alles daran gesetzt, Fördermaßnahmen zu verstärken. Neben muttersprachlichem Unterricht in Türkisch und Albanisch gibt es gezielte Zusatzkurse für deutschsprachige Kinder wie auch Deutschförder-Unterricht. Ziel ist es, Sprachschwierigkeiten bis zum Ende der vierten Klasse weitestgehend auszugleichen.

Ein Anspruch, der nicht einfach einzulösen ist. Weil an der Schule auch Kinder mit Lern- und Sprachstörungen integriert sind, steht zusätzlich für jeweils zwei Klassen eine Sonderschullehrerin zur Verfügung. „Das reicht aber immer noch nicht“, stellt Sonderpädogin Diana Leucht resigniert fest, „hier bräuchten viel mehr Kinder ein intensives Sprachtraining.“ Klassenlehrerin Astrid Schäfer bedauert besonders, dass die Sprachschwächen auch zu Lerndefiziten führten: „An intelligenten Kindern mangelt es hier sicher nicht, aber die Verständigungsschwierigkeiten wirken sich natürlich auch aufs Verständnis aus.“ Der Wortschatz wachse zwar, aber die grammatikalischen Fähigkeiten würden schlecht bleiben, die Kinder während der gesamten Schullaufbahn begleiten und nicht selten behindern.

Das hat auch die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) erkannt und Ende vorigen Jahres eine Bildungsoffensive gestartet. Sie fordert türkische Eltern auf, ihre Kinder spätestens im Alter von drei Jahren in den Kindergarten zu schicken, da sie die deutsche Sprache dort frühzeitig und in spielerischem Umgang lernen könnten.

Andrea Wellen, seit sechs Jahren Leiterin der Kindertagesstätte Uffelnsweg, kann das nur bestätigen: „SchulanfängerInnen, die schon jahrelang in der Kita waren, haben kaum noch Sprachprobleme.“ Viele türkische Eltern hätten aus diesem Grund schon vor dem Aufruf der TGD ihre Zöglinge in der Kita angemeldet. „Aber wir empfehlen den Eltern auch, zu Hause in der jeweiligen Muttersprache zu reden“, betont Wellen. Zweisprachigkeit funktioniere nur, wenn ein Kind auch die Muttersprache gut beherrscht.

Allerdings sind in dem Stadtteil nur wenige in der Lage, einen Kita-Platz zu bezahlen. Das ehemalige Arbeitergebiet Veddel rangiert in puncto Arbeitslosigkeit und Anzahl von SozialhilfeempfängerInnen auf den obersten Plätzen der offiziellen Statistik.

In Stadtteilen wie der Veddel kann die TGD-Kampagne wenig bewirken, bedauert deren Bundesvorsitzender Hakki Keskin: „Da haben sich im Laufe der Jahrzehnte politische Fehler angehäuft, die auf diesem Wege nicht einfach zu korrigieren sind.“ Ein Großteil der Wohnungen auf der Veddel sind Sozialbauten. Jahrelang wurden sie türkischen Wohnungssuchenden zugewiesen oder von diesen gemietet, weil sie in anderen Vierteln keine bezahlbare Bleibe finden konnten. „Welcher Ausländer würde nicht gerne in Winterhude oder Eppendorf leben?“ fragt Keskin provozierend. Ein Penny-Markt, das Haus der Jugend und von der Stadtentwicklungsbehörde verschönerte Grünflächen machen aus der Veddel eben keinen „In“-Stadtteil.

Die Leiterin der Schule Slomanstieg glaubt eine Idee zu haben: „Wenn jemand wie Udo Lindenberg hier ein Weile leben würde, wäre die Veddel plötzlich hip.“

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