: In die Kamera gespuckt
Verspieltheit und Eigensinn: Kira Muratova erhält den Andrzej-Wajda-Regiepreis. Im Panorama läuft ihr „Brief nach Amerika“
Als Kira Muratova 1994 ihren Film „Kleine Leidenschaften“ im Panorama vorstellte, wandte sie sich auf unkonventionelle Weise an die Zuschauer: Wer schon nach kurzer Zeit bemerke, dass ihm der Film nicht gefalle, solle ohne zu zögern das Kino verlassen. Das sei für sie keineswegs beleidigendes Verhalten, und das Seltsame war, dass sie das fröhlich, aber ohne Koketterie oder Hochmut sagte. Es war ihr ernst damit, und darin zeigt sich die Haltung einer Frau, die es müde ist, ihr Werk zu rechtfertigen. Denn verteidigen und rechtfertigen musste sie ihre Filme vor wie nach der Perestroika. Die Tatsache, dass ihre Filmografie für 35 Schaffensjahre 10 Filme verzeichnet, spricht in diesem Zusammenhang eine eigene Sprache.
Auf der diesjährigen Berlinale stellt sie leider nur einen 20-Minuten-Kurzfilm vor. „Der Brief nach Amerika“ ist ein Videobrief. Ein (in der Ukraine) Zurückgebliebener spricht zu einer Ausgewanderten. „Es geht mir hervorragend. Wie du siehst, habe ich das Rauchen wieder angefangen.“ Dann werden wir Zeuge einer Szene, die unaufdringlich und präzise Einblick in die aktuellen sozialen Verhältnisse bietet. Der nicht emigrierte Poet lebt vom Untervermieten seiner Wohnung, die Untermieterin kann und will nicht zahlen. Wie sich beide gegenseitig zu erpressen versuchen, dabei Betrugsmanöver nicht scheuen und in Rollen hineinschlüpfen, für die einst exemplarisch der Begriff „Entfremdung“ eingeführt wurde – das ist erschütternd und komisch zugleich. Zum Schluss wird in die Kamera gespuckt. Ein bisschen beleidigt fühlt man sich da als Zuschauer schon.
Im Vergleich zu den „Drei Geschichten“, die 1997 im Berlinale-Wettbewerb gezeigt wurden, und den „Kleinen Leidenschaften“ ist der „Brief“ ein zugänglicher Film, der trotzdem unverkennbar die Muratovasche Handschrift trägt. In all ihren letzten Filmen lässt sich eine gewisse Bösartigkeit ausmachen, die keine des Blickes oder der Intention, etwas zu entblößen, ist, sondern mit der Unerschrockenheit im Betrachten zu tun hat. Ihre Filme seien „unmoralisch“, hat man ihr deshalb in Russland oft vorgehalten. Ein weiterer oft wiederholter Vorwurf ist der, ihr Werk werde immer manieristischer, und tatsächlich meint man mit jedem Film eine Zunahme an Verspieltheit und Eigensinn zu erkennen. Schaut man sich jedoch noch einmal ihre frühen Filme an, fällt auf, wie manieristisch diese schon damals waren. Dabei geht es bei Muratova stets um „einfache“ Geschichten – wie etwa in „Lange Abschiede“ von 1971: Ein fast erwachsener Sohn möchte von seiner allein erziehenden Mutter weg zum geschiedenen Vater – das ist die ganze Handlung, mehr passiert nicht.
Intimes und Privatheit auf eine Weise zu zeigen, die weder verkitscht noch verurteilt, ist Muratovas unglaubliche Stärke. „Kleinbürgerlicher Realismus“ sei das, hieß es zu Sowjetzeiten. Zwar hat man damit richtig eingeschätzt, dass ihre Filme vom herrschenden Dogma abwichen, ihr Talent, emotionale Zustände und verborgene Antriebe genau jenseits der kleinbürgerlichen Schemata aufzuspüren, aber absolut verkannt.
Am Sonntag erhält Kira Muratova den „Andrzej Wajda/Philip Morris Freedom Prize“. Aus diesem Anlass wird ihr Film „Das Asthenische Syndrom“, der 1990 einen Silbernen Bären gewann, noch einmal gezeigt. Ein Film, den man unbedingt zu Ende gesehen haben sollte. Barbara Schweizerhof
Pis’mo V Ameriku; Regie: Kira Muratova, 21 Min. Am 12. 2., 19.30 Uhr, Cinemaxx 7; 13. 2., 13.00 Uhr, CineStar 3; 14. 2., 22.45 Uhr, CineStar 3
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