: Morden als patriotische Anstrengung
Im Juli 1994 ließ Kubas Regierung einen Schleppkahn mit Flüchtlingen versenken. Dabei starben 38 Menschen. Die meisten der Überlebenden sind emigriert. Diejenigen, die noch auf Kuba leben, sind auf dem Absprung ■ Aus Cotorro Heinz Anders
Um zum Haus der Senõra Vega und ihrer Tochter Mayda zu gelangen, muss man im Zentrum von Cotorro die holprige Hauptstraße verlassen und nach rechts in eine von Schlaglöchern gepflasterte Seitengasse einbiegen. Nach zweihundert Metern lässt man das Auto aber besser stehen, denn die Gleise der dreimal am Tag vorbeirumpelnden Vorortbahn ziehen sich ungeschützt quer über die Fahrbahn – die Überquerung eines derartigen Bahnübergangs ist unbeschadet nur einem Jeep oder einem ähnlich „hochbeinigen“ Fahrzeug möglich.
Das Haus von Mutter und Tochter Vega befindet sich an der Straße wenige Meter hinter dem Bahngleis. Es ist ein zweistöckiger kleiner Bau, kleiner Vorgarten, Schaukelstühle, fast schon eine ländliche Athmosphäre – ein durchschnittliches Haus in einem von vielen durchschnittlichen Vororten von Kubas Zweieinhalb-Millionen-Metropole Havanna.
Cotorro liegt 25 Kilometer südöstlich von Havannas Zentrum entfernt. In den Reiseführern kommt der Ort nicht vor, denn es gibt hier nichts zu sehen, das benachbarte Guanabacoa dagegen besitzt mit seinem Museum der afrokubanischen Religionen wenigstens eine Touristenattraktion.
„Was haben die Amerikaner denn Schreckliches mit Elián gemacht, dass man jetzt ein derartiges Spektakel veranstaltet? Sie haben ihm doch nur das Leben gerettet. Und was dagegen hat man unseren Kindern angetan?“ Señora Vega beginnt zu weinen, wenn sie an damals denkt, Mayda, ihre einzige noch in Kuba verbliebene Tochter, legt ihr tröstend den Arm um die Schulter.
„Damals“, das war jener 13. Juli 1994, als sie durch die Versenkung des Schleppkahns „13. März“ auf einen Schlag ihre älteste Tochter Marta Caridad und ihre drei Enkelinnen im Alter zwischen 4 und 16 Jahren verlor. 33 war Marta Caridad damals gewesen, so alt wie ihre Schwester Mayda heute.
Mayda umarmt ihre achtjährige Tochter Milena, die gerade aus der Schule kommt, und erzählt, was sie im Frühsommer jenes schrecklichen Jahres 1994 dazu bewogen hatte, zusammen mit ihrer großen Schwester Marta Caridad und deren drei Töchtern die Flucht aus Kuba zu wagen, nach Miami, wo bereits seit längerer Zeit ihre beiden Geschwister lebten. „Ich wollte meiner kleinen Tochter Milena eine Zukunft bieten, die gibt es hier in Kuba nicht. Als Büroangestellte mit einem Lohn von 157 Pesos im Monat (rund 8 Dollar) kann man nicht leben.“
Genau wie ihre ältere Schwester lebte auch Mayda 1994 bereits seit längerer Zeit von ihrem Mann getrennt und zog Milena alleine auf – eine durchaus alltägliche Situation im Kuba der Neunzigerjahre, ebenso alltäglich war auch, dass über ihre Tochter der Kontakt zum Kindsvater aber immer noch bestand.
Die Familiensituation von Elián González, dessen Mutter Elizabet Broton zusammen mit ihrem neuen Partner Lázaro Munero ihren Fluchtversuch aus Kuba im November 1999 mit dem Leben bezahlte, hat also durchaus Parallelen, auch Eliáns Vater kümmerte sich regelmäßig um den Jungen, obwohl die Mutter das Sorgerecht hatte.
Doch zurück zu Maydas Geschichte. Der Schleppkahn „13.März“ – so benannt nach dem Datum eines spektakulären Guerilla-Angriffs während der kubanischen Revolutionswirren im Jahr 1957 – war ein schon fast museumsreifes, ganz aus Holz gebautes Schiff, Baujahr 1879. Er war aber vor jenem verhängnisvollen Julitag mehrmals überholt worden, zuletzt am 9. 5. 1994. Man wollte eigentlich kurz darauf auch seinen Verwendungszweck ändern, er hätte einige Monate später – umgebaut – dem internationalen Tourismus für Rundfahrten in der Bucht von Havanna dienen sollen.
In den ersten Morgenstunden des 13. Juli 1994 fuhr ein Touristenbus mit rund 60 Insassen lautlos vor das eiserne Tor des „Muelle de la Luz“ genannten Abschnitts im Hafen von Havanna. Alles ging ganz schnell und ohne jede Gewaltanwendung, das Tor war vom Kapitän des „13.März“ unverschlossen gehalten, die beiden einzigen Wachposten waren mit einem Schlafmittel betäubt worden.
Der Fahrer des Busses war Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes UJC, und der Organisator des ganzen waghalsigen Fluchtunternehmens war Kreischef der Kommunistischen Partei in jenem Teil von Alt-Havanna, zu welchem auch die „Muelle de la Luz“ gehört. „Wir waren überzeugt, alles bestens vorbereitet zu haben, es gab viele Mütter mit Kindern, fast alle aus Guanabacoa und Cotorro, so wie ich. Wäre nicht alles so minutiös geplant gewesen, wäre ich nicht mitgegangen“, erzählt Mayda. Insgesamt befanden sich 18 Kinder und 50 Erwachsene auf der „13. März“, als der Schleppkahn ohne Licht die dunkle Bucht von Havanna durchquerte.
Kurz vor der Ausfahrt aus der Bucht aufs offene Meer hinaus leuchteten plötzlich die Scheinwerfer zweier anderer im Hafen liegender Schleppkähne auf, das Schiff war entdeckt worden. Die zwei (eisernen) Schleppkähne machten sich sofort an die Verfolgung der „13.März“, und als diese sich weigerte, anzuhalten, rammten sie den hölzernen Schlepper, der nach mehrmaligem Aufprall schließlich auseinanderbrach. „Das geschah rund sieben Meilen vor der Küste von Havanna, in einer Distanz also, wo man vom Ufer her nicht mehr genau sehen konnte, was sich abspielte“, berichtet Mayda. Sie selbst habe sich im Moment des Auseinanderbrechens des Kahns glücklicherweise auf jenem Teil befunden, der nicht gleich sank. „Es näherten sich zwei Polizeiboote, ich stellte mich mit meiner Tochter und zusammen mit meiner Freundin Daisy und deren zwei Töchter gut sichtbar am Rand unseres Kahnteiles auf, und schrie um Hilfe. Sie sollten sehen, dass wir Mütter mit Kindern und nicht etwa bewaffnete Piraten, waren.“
Als Antwort schleuderte sie ein Hochdruck-Wasserstrahl, der aus den Polizeibooten kam, ins Meer. „Meine Tochter Milena hatte ich in dem Moment in den Armen, wir konnten beide nicht schwimmen, zum Glück trieb neben uns eine Tischplatte, daran klammerten wir uns während etwa einer halben Stunde. Sie unternahmen nichts zu unserer Rettung, erst die später hinzukommenden Küstenwachtschiffe warfen uns Rettungsringe zu und nahmen uns auf.“
Die Überlebenden wurden dann in eine Polizeistation verbracht, sofort trennte man Frauen und Männer. „Wir wussten nicht, was mit uns geschehen würde, man verhörte uns, danach wurden wir freigelassen, man sagte uns nur, wir sollten froh sein, dass wir überlebt hatten, und wir dürften mit niemandem über das Geschehene sprechen, sonst würden wir sofort wieder verhaftet.“
Erst nach und nach wurde das ganze Ausmaß der staatlichen Versenkungsaktion klar: 38 Menschen waren ertrunken, darunter 11 Kinder, unter ihnen befanden sich auch Maydas Nichten Caridad (4), Yousel (11) und Mayulis (16) sowie ihre Mutter Marta, Maydas Schwester.
Bereits am folgenden Tag erschien in der Parteizeitung und einzigen Tageszeitung Granma eine kurze Meldung, die besagte, antisoziale Elemente hätten am Vortag ein Schleppschiff gestohlen, worauf es zu einem tragischen Unfall gekommen sei. „Sie konnten also das Verbrechen nicht geheimhalten, und wir wollten auch nicht schweigen, sie hatten sich verrechnet, sie glaubten, wir seien dermaßen terrorisiert, dass wir ruhig sein würden.“
Mayda und Daisy nahmen Kontakt auf mit der Menschenrechtsorganisation von Elizardo Sánchez, dem wohl weltweit bekanntesten Dissidenten Kubas. Außer Mayda und Daisy waren es noch zwei weitere Frauen, Janette und Maria, die diesen mutigen Schritt taten und dafür sorgten, dass die Öffentlichkeit die Wahrheit erfuhr. Die vier Frauen waren zu jener Zeit die einzigen erwachsenen Überlebenden, die über das Geschehen als Augenzeuginnen berichten konnten – alle 18 überlebenden Männer behielt die Staatssicherheit monatelan im Gefängnis.
Am 23. Juli erschien in Granma ein Leitartikel: „Eine bittere Lektion für Verantwortungslose“. Darin wurde erneut von einem „tragischen Unfall“ gesprochen. Gleichzeitig beschimpfte der Schreiber Tote wie Überlebende als „Diebe“, und ließ Letztere gleich auch noch lobende Worte für die Rettungsaktion durch Polizei und Küstenwache aussprechen ...
Nicht zuletzt wegen der Infamie dieser Propaganda kam es knapp zwei Wochen später, am 5. August 1994, zu regierungsfeindlichen Demonstrationen im Gebiet des Hafens von Havanna. Stundenlang lieferten sich hunderte von Demonstrierenden mit der brutal agierenden Polizei Straßenschlachten. Am Abend des gleichen Tages trat Fidel Castro vor die TV-Kameras und beschuldigte die USA, die Unruhen angezettelt zu haben. Außerdem nahm er Stellung zur Versenkung der „13. März“ und sprach ebenfalls von einem „bedauerlichen Unfall“. Gleichzeitig pries er die Versenkung als „patriotische Anstrengung, mit der kubanische Arbeiter ihr Arbeitsgerät verteidigten“.
Es war das letzte Mal, dass in Kuba von offizieller Seite über die Angelegenheit gesprochen wurde. Es war aber auch das letzte Mal gewesen, dass das Regime mit derartiger Brutalität gegen Fluchtwillige vorgegangen war. Heute verfolgt man eine eher laxe Haltung gegenüber Fluchtwilligen. Im Fall von Elián González brüstete man sich gar damit, dass man in Fällen von illegalen Ausreiseversuchen niemals Gewalt anwende, man versuche dagegen höchstens, die Leute zur Umkehr zu überreden.
Über die Geschichte der „13. März“ wurde seither der Mantel des Schweigens ausgebreitet, und wo das nicht half, setzte man den Repressionsapparat in Gang. Ein Teil der 31 Überlebenden ist inzwischen legal in die USA ausgewandert, sie haben die Schikanen und Verleumdungen satt. Auch Mayda, Daisy und ihre Töchter haben ihre Visa, sie warten nur noch darauf, dass sie auch ihre Eltern mitnehmen können.
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