: Von toten Großmüttern und Walter Jasper
■ Wir hören das komplette Radioprogramm der Bremer Region an. Im achten Teil unserer bezaubernden neuen Serie ein von Kindheitserinnerungen getränkter Rückblick auf die Hansawelle und ihre für ewig prägenden Stimmen
Meine Großmutter hatte einen Schrank, den konnte man aufklappen. Darin war ein Plattenspieler. Oberhalb der Klappe war ein Schlitz. Dahinter ein Radio. Wie oft in letzter Zeit, wenn mir etwas völlig Sinnloses einfällt, ist da das Bild einer Rumpelkammer, wo Dinge aufgehäuft sind, aus irgendeinem Grund. Vielleicht nur, weil man nicht entschieden genug widersprochen hat, als sie reingetragen wurden. Ich biege in Gedanken um eine Ecke, staune, eine weitere Reihe mit Regalen dahinter zu erblicken. äußerst geräumig, das Ganze. Blödsinn, was für ein Gedanke. Vorsichtig puste ich den Staub von einer Mappe, die ich unter einem Stapel von Kinderzeichnungen hervorgezogen habe. Auch alte Fotografien sind darunter.
Auf Bildern fängst du weder die Liebe ein, noch die Zeit, als es einfach war, frei zu sein, singen die Goldenen Zitronen. Und: Bilder von früher, um ganz ehrlich zu sein, bitte zeigt sie mir nicht mehr. Wohl wahr. Bildergucken ist wie diese ersten Gespräche, kurz nachdem man jemanden kennengelernt hat. Frauen erinnern sich nicht nur an ihre Kindheit, sie reden auch dauernd davon. Wie von früheren Freunden. Mir fällt dazu nie was ein.
Aber jetzt sind da, ganz dunkel, Freitagnachmittage. Nach der Schule, die Grundschule muss das noch gewesen sein, vor dem Radio sitzen. Und hören. Hineinlauschen in die Welt, die dann doch nur die nächste Umgebung war, meine kleine Welt. Nachmittage und Nächte, Sonne und Regen, der ganze Kram eben. Eigentlich Zeit, die Bemerkung einzustreuen, wie sehr mich dieses ganze Retrogequatsche nervt. Wer will das denn hören! Ich erinnere mich an den Seewetterbericht, im Halbschlaf, mit neun Jahren, nachts um Viertel nach elf und an die Frage, warum Menschen, die diese Musik hören, wissen, wo Skagerrak und Kattegatt sind. Und wenn sie's wissen, wozu. Ich erinnere mich an schulfreie Sonnabendvormittage und daran, wie Karl-Heinz Kalenbergs Stimme ein „gedehntes Ja“ ins Mikrophon lächelt. Ich erinnere mich, jahrelang das Wort „Sampling“ nicht gekannt zu haben, dafür aber jedes Wort des Stückes „Im Wagen vor mir sitzt ein junges Mädchen...“ Daran, mich später gefragt zu haben, was das eigentlich für ein sexistischer Dreck ist, Ratarataratatatata. Und daran, dass in einem Stück mit einem Titel wie „Babysitter-Boogie Woogie“ immer Kindergeschrei zu hören gewesen war. Auch ein Sample, frühkindlich. Den Mann, der das singt, habe ich später mal im Fernsehn gesehen. Ich erinnere, dass er einen komischen Schlapphut aufgehabt hat. Ich erinnere mich, mir eines Tages gesagt zu haben, warum hörst du dir das eigentlich an? An die ersten Schallplatten. Eine Single von Shakin' Stevens und eine LP von Geiersturzflug.
Ich erinnere mich, an Sonnabendnachmittagen die Stimme von Walter Jasper abgedreht zu haben, weil mir die Spannung unerträglich geworden war. Werder gegen FC Homburg, drei zu zwei, kurz vor Schluss. Bis zum Einbrechen der Dunkelheit auf dem Garagenhof, unserem „Sportplatz“ Fußball gespielt zu haben, ohne Radio. Ob die schlechteste Musik immer noch während der ersten Halbzeit läuft? Ich erinnere mich, unter Oldies etwas anderes verstanden zu haben als heute. Ich erinnere mich an den „Bremer Container“ am Freitagnachmittag und daran, dass ich lange Zeit nicht gewusst habe, ob es dies Behältnis überhaupt gibt. Und daran, einmal einen getroffen zu haben, der noch nie das Wort Shantychor gehört hatte. Ich schalte das Radio ein. Keine Ahnung, wie die „Hansawelle“ heute so klingt. Irgendwann habe ich da mal irgendwas von Umstrukturierung gehört.
„...des Jahres 1935 wurde Johnny Guitar Watson geboren...“ Ein Schnipsel von dessen Zusammenarbeit mit Frank Zappa. Dann ein Stück von Ace of Base. Ich schalte das Radio aus. Schöne Zeit, damals? Tim Schomacker
Hansawelle auf UKW 93,8 Mhz
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