: Das Ende der friedlichen Kohabitation in Frankreich
Auch innenpolitisch lösen Lionel Jospins Auftritte im Nahen Osten heftigen Streit aus
Paris (taz) – Es geschah am 999. Tag einer bis dato erfolgreichen Amtsführung, da regnete es Steine auf das Haupt von Lionel Jospin. Der sozialistische Premierminister zeigte keine Gefühlsregung, flüchtete unter dem Schutz seiner Bodyguards in einen wartenden Wagen und brach die lang geplante Nahostreise vorzeitig ab. Vor seinem hastigen Rückflug nahm er noch die Entschuldigungen von Palästinenserchef Arafat entgegen und versuchte seinerseits gerade zu rücken, was er tags zuvor gesagt hatte. Statt „Terrorismus“ warf er der Hisbollah nun nur noch „kriegerische Akte“ vor, was immerhin eine Nuance ehrenhafter ist.
Doch zum Zeitpunkt dieser Kehrtwende am Samstagabend hatte die ursprüngliche Erklärung von Jospin in Tel Aviv bereits gewaltigen Schaden angerichtet. Nach einem halben Jahrhundert des von General de Gaulle begründeten Equilibrismus zwischen arabischer Welt einerseits und Israel andererseits, mit vielen deutlichen Sympathien für die mit Frankreich historisch verbundenen arabischen Länder, hatte erstmals ein französischer Regierungschef die Seite gewechselt. Er tat dies in Israel, wo mit Barak ein politischer Freund regiert. Er tat es gegenüber einer jüdischen Wählerschaft zu Hause – und in offener Herausforderung des neogaullistischen Staatspräsidenten Jacques Chirac, mit dem ihn bis dato eine konstruktive Zusammenarbeit verbunden hatte.
Der Staatspräsident, dem in Frankreich traditionell das Vorrecht auf Außen- und Verteidigungspolitik zusteht, reagierte entsprechend scharf: Zwar verurteilte er die Steinwürfe, doch wies er zugleich seinen sozialistischen Premierminister zurecht. Jospin habe „Frankreichs Glaubwürdigkeit als Friedensstifter im Nahen Osten geschadet“, verlautete aus dem Elysée-Palast. Noch am Samstagabend rief der Staatschef seinen Premier zur Räson.
Mit dem Zwischenfall von Bir-Zeit ist die friedliche Kohabitation in Paris zu Ende gegangen. An ihre Stelle ist der Konkurrenzkampf um den obersten Posten in Frankreich getreten, für den sich nach allen Anzeichen sowohl Chirac – für die Konservativen – als auch Jospin – für die Sozialisten – im Jahr 2000 bewerben werden.
Doch indem er das präsidiale Vorrecht in Frage stellte, warf Jospin auch seinem eigenen Außenminister Steine in den Weg. Hubert Védrine, der unermüdlich durch die arabischen Hauptstädte jettet, versuchte gestern Schadensbegrenzung. Er sprach von einem „starken Ausdruck“, der keinesfalls die französische Nahost-Politik in Frage stelle.
In Frankreich, wo der Islam die zweite Religion ist, waren die Reaktionen heftig. Auf dem Markt des von zahlreichen algerischen und tunesischen Immigranten besuchten Pariser Stadtteil Barbès sprachen die Menschen gestern von einem „Affront“ und einer „sehr dummen Erklärung“. Der Rektor der größten Moschee Frankreichs, Daniel Bubaker, hoffte, dass die Reaktionen auf Jospins Israel-Reise, „das Bewusstsein für die Probleme in der Region stärken“.
Ganz andere Reaktionen verlauteten aus der jüdischen Gemeinde Frankreichs, zu der rund eine halbe Million Menschen zählen. Der Neogaullist Jacques Girac hatte dort viele Sympathien gewonnen, als er kurz nach seinem Amtsantritt in Jahre 1995 als erster Staatspräsident von einer französischen Verantwortung für die Deportation von über 70.000 Menschen in die Vernichtungslager sprach, und als er das Kollaborateurregime von Vichy, das seine Amtsvorgänger aus der offiziellen Geschichte Frankreichs ausgeblendet hatten, als integralen Bestandteil der französischen Geschichte bezeichnete. Nach Jospins tumultuarischer Israelreise lobte der frühere Vorsitzende der größten jüdischen Organisation in Frankreich, Crif Theo Klein, den „Mut“ des Premierministers: „Er hat etwas gesagt, was wahr ist.“
Dorothea Hahn
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