: „Es kann nur besser werden“
Die drusische Urbevölkerung auf den Golanhöhen wartet sehnsüchtig auf das Ende der israelischen Annexion, auch wenn vorübergehend wirtschaftliche Einbußen in Kauf zu nehmen sein sollten ■ Von den Golanhöhen Susanne Knaul
Ein eisiger Wind fegt über den „Gipfel der Rufe“, auf den sich ein paar hundert Menschen durch den regennassen Matsch hochkämpfen. Die Leute aus dem kleinen Dorf Majd al-Schams kommen trotz der Kälte, um gegen ein Gesetz zu protestieren, das vor gut 18 Jahren beschlossen wurde. „Recht und Verwaltung des Staates Israel“, so heißt es im ersten Paragraphen, „sollen fortan auch für die Golanhöhen gelten.“
Anstelle der Militäradministrationen traten zivile Verwaltungsbüros. Die muslimische Bevölkerung war fortan befugt, die volle israelische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Nur wenige machten davon Gebrauch. Stattdessen organisierten sich die ehemaligen Syrer im annektierten Land drei Monate nach Verabschiedung des unliebsamen Gesetzes, das in ihren Augen nur die Expansionsabsichten Israels manifestierte, und begannen einen sechsmonatigen Generalstreik.
„Mit unserem Blut und unserer Seele werden wir den Golan erlösen“, rufen die Demonstranten in Erinnerung an den damaligen Streik. „Dieses Land ist arabisch, wir werden unsere Identität niemals aufgeben.“ Jenseits des in einer Talebene befestigten Stacheldrahtes liegt Syrien. Der „Gipfel der Rufe“ ist für die Leute zu beiden Seiten der Grenze der Ort, wo sie sich am nähesten kommen und laut rufend überhaupt miteinander kommunizieren können.
Auf dem Hügel vis-a-vis parken PKWs und Busse. Die Familienangehörigen der Leute von Majd al-Schams und offizielle Regierungsvertreter solidarisieren sich mit dem Protest im annektierten Land. Sie bauen riesige Lautsprecher auf, die die Reden bis nach Majd al-Schams hörbar machen, wo unter Schirmen dicht zusammengedrängt die drusischen Religionsgelehrten jedes Wort aufmerksam verfolgen.
Alle tragen die traditionellen schwarzen Anzüge, deren Hosen bis zu den Knien wie ein weiter Rock geschnitten sind, und die zu den Fußgelenken eng zusammenlaufen. Ihre runden Hüte sind mit weißen Tüchern bedeckt. Außer den Gelehrten sind auffallend viele junge Menschen auf den Gipfel gekommen, die meist nach Geschlechtern getrennt in Gruppen zusammenstehen.
Als auf der anderen Seite die syrische Nationalhymne ertönt, versammeln sich die jungen Männer am Rand des Hügels und beginnen, Steine auf die israelischen Grenzpolizisten zu werfen. Die beobachten das Schauspiel aus kurzer Entfernung und schießen wenig später Tränengasbomben in die Menschenmenge. Der Protest gegen das so genannte Golangesetz ist damit für diesen Tag beendet.
Majd al-Schams ist eins von vier Dörfern auf den annektierten Golanhöhen, in dem fast ausschließlich Drusen leben. Dennoch legen die Menschen hier Wert darauf, nicht an ihrer Religion festgemacht zu werden. „Wir sind muslimische Araber“, betont Dr. Taiseer Maray, Vorsitzender des Arabischen Entwicklungverbandes, auf dem Rückweg vom „Gipfel der Rufe“. Wenn Israel stets nur von Drusen spreche, dann stehe dahinter die politische Absicht, die Gruppe vom arabischen Volk zu trennen, erklärt Maray und bläst Zigarettenrauch in die feuchtkalte Luft. Zwar habe man die gleiche Religion wie die Drusen in Galiläa, dennoch „ist unsere Verbindung zu den Palästinensern im Westjordanland eine viel engere“.
Im Gegensatz zu den „annektierten Golan-Syrern“ haben die Drusen in Galiläa nicht nur die israelische Staatsbürgerschaft angenommen, sondern leisten zusätzlich Dienst in der Armee. Damit stoßen sie zwar auf den Widerstand ihrer Glaubensgenossen auf den Golanhöhen, dennoch halten sie sich an eine der Grundregeln der seit etwa 1000 nach Christus bestehenden muslimischen Geheimsekte. Die Drusen hegen keine Ansprüche auf politische Autonomie, sondern bleiben dem jeweils regierenden Regime treu, ganz egal ob es muslimisch, christlich oder jüdisch ist.
Davon ausgehend, dass die annektierten Golanhöhen eines Tages an Syrien zurückgegeben würden, lehnten die meisten Drusen das Angebot der israelischen Staatsbürgerschaft ab.
Anders ist es in einem fünften ehemals syrischen Dorf, das den Krieg 1967 unbeschadet überstand, weil es unmittelbar an der libanesischen Grenze liegt. Es wurde, so berichten die Bewohner, „einfach vergessen“. Die israelischen Soldaten dachten offenbar, dass der Ort Rhajar zum Libanon gehört, mit dem man damals keinen Krieg führte.
Knapp 2000 ehemalige Syrer leben heute in Rhajar. Sie gehören zur muslimischen Alawi-Sekte, der auch Syriens Präsident Hafis al-Assad angehört. Hier im Dorf haben sogar fast alle die israelische Staatsbürgerschaft angenommen.
Ein zwei Meter hoher, verrosteter Stacheldrahtzaun führt um das Dorf. Bis in die frühen 80er-Jahre wurde das Tor jeden Nachmittag um 17 Uhr abgeschlossen, erinnern sich Bewohner. Wer es nicht rechtzeitig bis nach Hause schaffte, musste die Nacht auf den Feldern verbringen oder in einem Nachbardorf Unterschlupf finden. Grund für die nächtliche Sperre war der offene Zaun am anderen Ende des Dorfes, der den Übergang zum Libanon ermöglichte. Seit 1982 ist der Zaun drüben zumindest offiziell geschlossen, und das Tor in Richtung Israel bleibt seither auch nachts offen. Tatsächlich kommt man, wenn nicht gerade eine israelische Patrouille vorbeifährt, von Rhajar aus problemlos zu Fuß in den so genannten südlibanesischen Sicherheitsstreifen. Nicht zuletzt aufgrund der „günstigen Lage“ wurde der Ort über die Jahre für seinen regen Drogenhandel berühmt.
Obwohl das Dorf 1967 unblutig eingenommen wurde, flüchtete die Hälfte der Bevölkerung vor den israelischen Soldaten. Moussa Souleiman und seine Brüder blieben in Rhajar, um „das Land der Familie zu bewachen“. Viel hat es ihnen nicht genützt, denn fast ein Drittel sei dennoch konfisziert worden, entweder, um es benachbarten jüdischen Siedlungen zur Bebauung zur Verfügung zu stellen oder, wenn es Grenzgebiet ist, um darauf Minen zu verlegen.
Seit 1967 forderten die Landminen 16 Tote und über 50 Verletzte, berichtet die Menschenrechtsorganisation „Al-Haq“ („Gerechtigkeit“). Von den Brüdern Souleiman arbeitet keiner mehr auf dem elterlichen Gut. „Wir hätten gar nicht genug Wasser dafür“, erklärt Souleiman. Stattdessen fährt der kräftige Enddreißiger täglich in einen jüdischen Kibbuz, wo er als Tagelöhner das Land anderer bebaut. „Die Juden auf dem Golan bekommen von staatlicher Seite zehnmal mehr Wasser zur Verfügung gestellt als wir“, erklärt Moussa. Dabei fällt gerade im Norden des Golan, wo die fünf ehemals syrischen Dörfer liegen, rund die doppelte Menge an Regen als im südlichen Golan. Ein Anspruch auf das Wasser erwächst den Leuten offenbar nicht daraus. „Wir werden unser Land bebauen, wenn es wieder syrisch ist“, hoffen die Brüder Souleiman.
Auffallend viele unfertige Neubauten stehen in dem ärmlichen Dorf, und auffallend viele Kinder mit Down-Syndrom spielen in den Straßen. Die Bevölkerung von Rhajar lebt relativ isoliert von den Nachbarn. Die gläubigen Drusen dürfen nur untereinander heiraten, die benachbarten Juden kommen als Ehepartner ohnehin nicht in Frage.
Der Weg von Rhajar zurück nach Majd al-Schams führt vorbei an dem überwiegend von Drusen bewohnten Dorf Ein Kinja und an zerstörten syrischen Ortschaften. Die Ruinen einiger Häuser lassen auf früheren Wohlstand schließen. Das Land ist fruchtbar; die bergige, teils bewaldete Landschaft einladend schön. Über 130 Dörfer sollen nach Angaben der ehemaligen Syrer auf dem Golan zerstört worden sein, über 130.000 Menschen seien vertrieben worden. Die Zurückgebliebenen machen heute rund 17.000 Menschen aus, etwas weniger als die seit 1967 zugezogene jüdische Bevölkerung.
„Wenn die Flüchtlinge zusammen mit ihrem Nachwuchs eines Tages zurückkehren, dann werden hier eine halbe Million Menschen leben“, glaubt Dr. Taiseer Maray, der das Ende der Annexion gar nicht abwarten kann. Seit einigen Jahren versucht er mit seinem Arabischen Entwicklungsverband in Majd al-Schams Alternativen zu den israelischen Angeboten auf dem Golan zu schaffen. In den Schulen wird, wie überall im Staat, das Alte Testament unterrichtet und hebräische Grammatik, während „von der Annexion der Golanhöhen kein Wort in den Geschichtsbüchern steht“, schimpft der gelernte Lehrer. Sein Privatunterricht soll „die israelische Propaganda kompensieren helfen“. Viele Schüler hat er aber nicht, denn den Unterricht müssen die Eltern aus Mangel an ausländischer Hilfe selbst bezahlen.
Immerhin sorgten die Israelis für eine funktionierende Infrastruktur, für neue Straßen, Wasser- und Stromversorgung. Unter einigen Ortsvorständen macht sich deshalb neben der allgemeinen Vorfreude auf den kommenden Frieden auch Sorge breit über die Zukunft der Gemeinden, wenn die Verwaltung eines Tages in syrische Hände übergeht. Allerdings mag bei manchen, von den israelischen Behörden für die Ämter bestimmten Beamten auch die Angst um das ganz persönliche Schicksal durchblicken. Bedingung für ihren Posten war, die israelische Staatsbürgerschaft zu akzeptieren. Allein damit gelten sie schon als Kollaborateure und müssen möglicherweise mit Bestrafung von syrischer Seite rechnen. Die eigenen Landsleute scheinen ihnen hingegen mit Nachsicht zu begegnen. „Das sind Diät-Kollaborateure“, lacht Salman Barake, ein Kollege von Taiseer Maray. „Unsere Kollaborateure tragen keine Waffen und würden niemals Land verkaufen.“
Dass der erhoffte Aufschwung nicht sofort kommen wird, sondern nach dem Friedensvertrag vorübergehend mit einem Absinken des Lebensstandards gerechnet werden muss, stört Lehrer Maray nicht. „Es ist unser Land“, sagt er. „Wir sind bereit, den Preis dafür zu bezahlen.“ Langfristig werde der Frieden wirtschaftliche Vorteile bringen. „Die Golanhöhen liegen in der Mitte. Da bieten sich neue Geschäftsmöglichkeiten.“ Allein der Bau der für die Rückkehrer notwendigen Häuser werde Arbeitsplätze schaffen und die Wirtschaft ankurbeln.
Ob mit oder ohne Wirtschaftswachstum, der Frieden zwischen Syrien und Israel wird der Urbevölkerung auf den Golanhöhen zumindest die Zusammenführung ihrer Familien bringen. Und der „Gipfel der Rufe“, der angesichts der komplizierten Telefonverbindungen zwischen den beiden Ländern die einfachste Möglichkeit der Kommunikation bot, wird wieder zu einem Hügel wie viele andere in der Region.
Maray hat seinen Bruder, der vor der Annexion 1981 in Damaskus studierte und anschließend Syrien nicht mehr verlassen durfte, seit über 20 Jahren nicht aus der Nähe gesehen. Seine Nichten und Neffen kennt er nur von Fotos oder durchs Fernglas.
Möglicherweise wird das seit über 20 Jahren erwartete Familientreffen noch vor der Unterzeichnung eines Friedensvertrages möglich werden. Denn vor kurzem einigten sich die beiden Staaten auf die Einrichtung eines syrisch-israelischen Treffpunkts für geteilte Familien. Der Vertrag ist ein „humaner Akt“, heißt es. Nur schade, dass man erst so spät angefangen hat, darüber nachzudenken.
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