: Der Fake als Normalfall
DAS SCHLAGLOCH Von Klaus Kreimeier
Beweis oder Fälschung
taz-Überschrift am 26./27. 2. 2000 zum Bericht über Videobilder aus Tschetschenien
Als „Provokation“ bezeichnete der Menschenrechtsbeauftragte der russischen Duma, Mironow, die vom Sender N24 gedrehten Filmbilder von mutmaßlich ermordeten tschetschenischen Rebellen in einem Dorf bei Grosny. Vom Westen werde „psychologischer und medialer Druck“ auf Russland ausgeübt, behauptete Geheimdienstchef Sdanowitsch. Und über eine „Verdrehung der Fakten“ empörte sich Oleg Aksjonow, Leiter der Presseabteilung im russischen Ministerium des Innern. Beweis oder Fälschung? Vermutlich weder noch.
Gehen wir einmal davon aus, die Bilder seien gefälscht. Zu überprüfen wäre die Manipulation nicht – weder an dem von Pro7 gesendeten Material noch an den von N24 im Internet veröffentlichten Videoschnipseln. Deren Informationswert ist gering: Präsentiert werden tschetschenische Flüchtlinge, die von russischen Folterungen berichten; man sieht einen Lastwagen, der an einem Seil einen menschlichen Körper hinter sich herschleift; man sieht menschliche Körper in einer Grube liegen, die Gesichter nach unten, Seile deuten darauf hin, dass man sie gefesselt hat. Mehr ist nicht zu sehen – nicht einmal, ob es sich um Leichname handelt.
Spuren von nachträglicher Bearbeitung dokumentarischen Bildmaterials sind für ein ungeübtes Auge nicht zu erkennen. Unterstellt man, das Material wäre digital bearbeitet worden, so würde die Fälschung auch die Augen des Fachmanns überfordern.
Geht man davon aus, die Bilder seien nicht gefälscht, so ist unverkennbar, dass sie nicht leisten können, was der gesprochene Kommentar ihnen zumutet: unbestreitbare oder auch nur anschauliche Belege für unmenschliche Grausamkeiten russischer Soldaten an tschetschenischen Widerstandskämpfern zu sein. Der Kommentar sagt sinngemäß: Hier sind ermordete Rebellen zu sehen, die das russische Militär zuvor gefoltert hat. Aber die Bilder beweisen nicht, was der Kommentar behauptet. Der Kommentar bürdet ihnen vielmehr eine Beweiskraft auf, die sie nur durch das Vertrauen des Zuschauers erhalten. Ein Gratisvertrauen, das den ungeschriebenen Vertrag zwischen dem dokumentarischen Fernsehen und seinen Zuschauern besiegelt. Ein Vertrauen, ohne das unser dokumentarisches Fernsehen als Informationssystem, dem wir zu einem erheblichen Teil unsere Weltkenntnis verdanken, nicht funktionieren würde.
Zumindest nachvollziehbar ist somit, dass offizielle russische Stellen von einer Provokation sprechen. Und dass mit den Filmbildern von N24 psychologischer und medialer Druck auf die russische Militärführung ausgeübt wird, trifft objektiv zu. Dass es sich um eine Verdrehung der Fakten handle, ist eine Behauptung, die zu überprüfen wäre. Zu überprüfen wäre auch, was alle diese Aussagen politisch und moralisch wert sind – und ob sie zum Beispiel mehr wert sind als seinerzeit die Behauptungen der Nato, Saddam Hussein habe die Bilder von den Zerstörungen in Bagdad oder Milošević habe die Filmaufnahmen von den Bombenschäden in Belgrad manipuliert.
Fest steht einstweilen nur, dass für die Adressaten der Bilder, die Zuschauer, weder der Tatbestand, den die Bilder beweisen sollen, noch die Frage, ob eine Bearbeitung an ihnen vorgenommen wurde, um ihre Beweiskraft aufzuwerten, verifizierbar ist. Das ist ein altes Dilemma – so alt wie die Geschichte der technisch hergestellten Bilder, also mindestens so alt wie die Fotografie. Tatsächlich gibt es in der Geschichte der technisch produzierten Bilder eine Subgeschichte der Fakes, der nachträglich vorgenommenen Montagen, Retuschen oder subtilen Ergänzungen am authentischen Material. Jede Geschichte der Fotografie, die etwas auf sich hält, ergeht sich genüsslich über dieses finstere Kapitel, und im Allgemeinbewusstsein werden die Höhepunkte der fotografischen Fälschungen als kulturhistorische Kuriosa gehandelt. Mit Vorliebe werden sie den Diktatoren angelastet – und inzwischen widerspricht ja auch niemand mehr, wenn festgestellt wird, Stalin habe sich als fürsorglichen Krankenbesucher neben den dahinsiechenden Lenin montieren lassen, während Trotzki aus heroischen Bildern herausoperiert wurde. Kuriosa eben, die einmal große Aufregung verursacht haben und heute allenfalls noch Sammler interessieren.
Das Problem ist nur, dass die ganze Geschichte der technischen Bilder neu geschrieben werden muss. Sie müsste als eine Geschichte des Fakes als Normalfall geschrieben werden, und als Kuriosum müsste sie analysieren, dass es einmal so etwas wie das Vertrauen der Rezipienten gab, mit dem die Beweiskraft „dokumentarischer“ Fotografien verbrieft und besiegelt wurde. Dies wäre eine Geschichte der Überredungsmacht, die von den kleinen, viereckigen Bildfeldern mit ihren mechanisch produzierten Umrissen ausgeht – und eine Geschichte der Emotionen, die sie in uns auslösen. Und es wäre auch eine Geschichte der Bedeutungen, die diejenigen den Bildern hinzufügen, die an ihrer Überredungsmacht interessiert sind, weil sie mit der Bild-Legende (der Anleitung, wie das Bild zu lesen sei) eine politische Legende (die Anleitung, wie die Wirklichkeit zu lesen sei) zu stützen suchen. Die digitale Fotografie und die digitale Filmbearbeitung werden – womöglich schneller, als es derzeit den Anschein hat – uns Bildbetrachter und Filmzuschauer definitiv von der Illusion heilen, dass Bilder im Stande seien, etwas zu beweisen: und selbst wenn es nur um den Nachweis ginge, dass ein Ereignis, das als gesichert gelten kann, auch wirklich stattgefunden hat. Vermutlich hat es stattgefunden – aber nichts spricht dafür, ausgerechnet in einem Bild, das aus Pixeln generiert wurde, sein „Abbild“ wiederzufinden. Millionen Punkte, aber kein Anhaltspunkt für Wirklichkeit. Der Fake ist die Wirklichkeit – und wird damit, jenseits des Kuriosums, politisch. Anders gesagt: Mit dem Eintritt der Politik ins digitale Zeitalter gewinnen das Gerücht, die Exegese und der Diskurs über Wahrscheinlichkeiten ihre alte Bedeutung zurück.
Vermutlich hat es verfängliche Akten gegeben, die der Kohl-Regierung im Wege waren, bevor sie das Kanzleramt an Schröder übergeben musste. Aber die Akten waren Computerdateien, eigentlich also nicht existent, denn Punkte haben keine Ausdehnung: auch Millionen mal nichts ergibt nichts. Als Dokumente für Staatsarchive kämen sie schwerlich in Betracht. Was zählt, ist ihr informationeller Gehalt, der mit der Löschtaste eliminiert werden kann.
Für den politischen Diskurs, der nun ausbricht, genügen die Vermutung, dass die Dateien einmal existiert haben, die Annahme, dass sie gelöscht wurden, und die Nachricht, dass sich derzeit Computerspezialisten darum bemühen, sie aus dem Nichts, in dem sie zerstoben sind, wieder herzustellen. Ankläger wie Angeklagte könnten nun ohne Weiteres, wie die russischen Offiziellen, von einer „Provokation“ sprechen, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren – freilich auch, ohne in diesem Punkt hinzuzugewinnen. Glaubwürdigkeit ist eine Qualität, die in dem Maße an Wert gewinnt, in dem wir künftig über weite Strecken auf sie verzichten müssen.
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