■ Trotz massiver Zweifel an dem Gutachten der Ärzte hat sich der britische Innenminister Jack Straw entschieden, Chiles Ex-Diktator Pinochet ausreisen zu lassen. Die Angst vor einem Märtyrertod des Folterers in England war größer als der Wille zur Gerechtigkeit
: Er soll in Chile sterben

Nun also doch. Keines der Argumente, die Belgien, Frankreich, Spanien und die Schweiz im Verein mit verschiedenen Menschenrechtsorganisationen vorgebracht haben, hat den britischen Innenminister Jack Straw überzeugen können, von der Freilassung des chilenischen Ex-Diktators Augusto Pinochet abzusehen. In der Begründung fegt Straw alle Anwürfe mit einem Federstrich beiseite. Und damit auch ja niemand mehr in der Lage ist, weitere Einsprüche geltend zu machen, informierte Straw die chilenische Seite offenbar so rechtzeitig von seinem Vorhaben, dass sich Pinochet schon auf dem Weg zum Flughafen befand, als Straw seine Entscheidung öffentlich mitteilte.

Straw, so scheint es, hatte nach 17 Monaten juristischen Tauziehens um Pinochet einfach genug – und zudem immer größere Angst, der 84-jährige Pinochet könnte noch während seines Aufenthalts in Großbritannien das Zeitliche segnen. Anders ist die Eile und die Rigorosität der Entscheidung des Innenministers nicht zu erklären.

Immerhin hatte es an dem medizinischen Gutachten der britischen Ärzte, das der Entscheidung zugrunde liegt, doch massive Zweifel gegeben. Die spanische Justiz hatte eine achtköpfige Medizinerkommission auf das Gutachten angesetzt – und diese war zu völlig anderen Schlüssen gekommen als das britische Innenministerium. Während Jack Straw auch in seiner neuen Entscheidung noch einmal detailliert alle bekannten Indizien aufzählt, warum Pinochet nach einer massiven Verschlechterung seines Geisteszustands nicht in der Lage sei, einem Prozess zu folgen, bescheinigten die spanischen Ärzte Pinochet volle Prozessfähigkeit. Zumindest aber, so hatten sich alle vier die Auslieferung Pinochets begehrenden Staaten geeinigt, müsse es eine zweite, unabhängige Untersuchung geben.

Straws Diktion ist die eines wahren Befreiungsschlages

Gerade diesen wichtigsten Punkt der internationalen Kritik behandelt Straw in seiner 59 Einzelpunkte umfassenden Erklärung am kürzesten: Die spanischen Ärzte hätten ja keine Gelegenheit gehabt, Pinochet selbst zu untersuchen. Außerdem sei ihm gesagt worden, dass ihre Kritik irrelevant sei – und das glaube er auch. Eine zweite medizinische Untersuchung habe Pinochet abgelehnt. Es gebe keine Mittel, ihn dazu zu zwingen.

So bleibt das schale Gefühl, dass der Wille zur Freilassung die Interpretation der Fakten diktiert hat. Straws Diktion ist die eines Befreiungsschlages. Er beweist nichts – er behauptet. Er versucht glaubhaft zu machen, er habe sich mit allen Rechts- und Gerechtigkeitsfragen hinreichend beschäftigt. Sicher, für die Opfer der Diktatur sei das ungerecht. Ja, schon, eigentlich müssten Verbrechen wie Mord und Folter gesühnt werden, ein Prozess gegen Pinochet sei daher durchaus wünschenswert. Nur gebe es eben leider, leider keine andere Möglichkeit, als den Mann wegen seiner Prozessunfähigkeit freizulassen.

Straws Wunsch, das Verfahren endlich loszuwerden, hat dem juristisch beispiellosen Fall Pinochet ein unrühmliches Ende beschert. Dabei sind in den 17 Monaten von Pinochets Gefangenschaft in Großbritannien durchaus neue Leitsätze internationalen Rechts geschaffen, andere erstmals angewandt worden. Von größter praktischer Bedeutung dürfte die Grundsatzentscheidung der Lordrichter von Ende 1998 sein, dass ein wegen Menschenrechtsverletzungen, Folter und Mord während seiner Regierungszeit angeklagter Ex-Diktator keinesfalls als ehemaliger Staatschef automatisch Immunität genieße. Es war auch für Pinochet die größte Überraschung, plötzlich rechtmäßig verhaftet werden zu können. Allein diese Tatsache beschädigte das Bild des unantastbaren Mächtigen, das von ihm gepflegt worden war.

Und: War die spanische Anklage zunächst nur auf Vergehen der chilenischen Diktatur gegen spanische Staatsbürger beschränkt, so dehnte der Ermittlungsrichter Baltasar Garzón sie alsbald auf „Verbrechen gegen die Menschheit“ aus, die auch durch nationale Gerichtsbarkeiten weltweit geahndet werden könnten, egal, wo und gegen wen sie begangen wurden. Im Kern wurde diese Auffassung auch durch die britischen Gerichte bestätigt, wenngleich sie im Auslieferungsverfahren die zu ahndenden Delikte auf jene einschränkten, die nach dem Beitritt Großbritanniens zu den entsprechenden internationalen Konventionen verübt wurden.

Die weltweiten Diskussionen um den Fall Pinochet haben jedoch auch gezeigt, wie sehr die Debatte über die internationale Rechtsprechung noch in den Kinderschuhen steckt. Nicht nur die Tory-Opposition im britischen Unterhaus zeigte sich über die ganze Angelegenheit stets unerfreut und vertrat unter kompletter Ignoranz der chilenischen Verhältnisse stets die Auffassung, der Fall Pinochet sei in Chile zu lösen. Auch die deutsche Justiz hält sich in vergleichbaren Fällen auffallend zurück – sei es in Bezug auf die frühere argentinische Militärdiktatur, die chilenische Colonia Dignidad oder eben den ehrenwerten Senator Augusto Pinochet, gegen den auch in Deutschland Verfahren anhängig sind.

So wusste sich Straw mit dem Großteil der europäischen Regierungen in dem Bestreben einig, sich nicht länger an Chiles altem Diktator die Finger zu verbrennen. Die Weigerung des spanischen Außenministers, etwaige Anfechtungen des Ermittlungsrichters Garzón überhaupt noch auf den diplomatischen Weg zu bringen, sprach da Bände. Pinochet ist wieder in Chile – nicht nur, weil er krank ist. Bernd Pickert