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Baustelle Jugendhilfe

„Ambulante Hilfen zur Erziehung“ sind unter Hamburgs Sozialpädagogen hoch umstritten. Sie fordern Umstrukturierung in Richtung offener Kinder- und Jugendarbeit  ■ Von Kaija Kutter

Was kann ein Hamburger Jugendlicher tun, der Stress mit seinen Eltern hat und gern von Zuhause ausziehen möchte? Sehen, wie er allein zurecht kommt – oder eine „Hilfe zur Erziehung“ (HZE) beantragen und ein Problemfall mit Akte werden. „Dazwischen“, moniert Sabine Kohlhoff, „gibt es nichts.“ Dabei, so die Geschäftsführerin des Verbandes für offene Kinder- und Jugendarbeit, sei die Tatsache, dass Teenager sich von ihren Eltern lösen, das Normalste der Welt und kein Fall für eine aufwendige Einzelfallbetreuung.

Doch genau so funktioniere die Jugendhilfe seit Mitte der 90er Jahre in Hamburg. Während die „soziale Infrastruktur“ an Kindergärten, Jugendclubs und Elternschulen immer weiter zusammengespart worden sei, boome der Bereich der HZE. Der Gesamtetat für ambulante und stationäre Hilfen ist mit 250 Millionen Mark heute fünfmal so groß wie der für offene Kinder- und Familienarbeit. Kinder, Jugendliche und Eltern, die Rat brauchen, müssten sich zum Problemfall machen, damit sie Hilfe bekommen.

Weil der Etat 1999 in zweistelliger Millionenhöhe überschritten wurde, hatte die Stadt verfügt, dass ambulante Hilfen zur Erziehung nur noch in Ausnahmefällen genehmigt werden durften - die Träger nannten das einen „Bewilligungsstop“. Außerdem sollten sie sich für 2000 auf eine Kontingentierung einlassen (taz hamburg berichtete). Parallel zu der aktuellen Diskussion, so Kohlhoff, gebe es in politischen Gremien und Jugendbehörde eine grundsätzliche Debatte über Jugendhilfe. Kohlhoff hat selbst fünf Jahre im HZE-Bereich gearbeitet. „Hilfen zur Erziehung stigmatisieren“ resümiert sie und fordert eine Umsteuerung in der Jugendhilfe: Niedrigschwelligere Angebote, zu denen die Menschen gehen könnten, ohne als Problemfall aktenkundig zu werden, könnten eine Vielzahl der teureren HZE-Maßnahmen ersetzen. Einer überforderten Alleinerziehenden wäre vielleicht schon mit einem Müttercafé gedient, den rebellierenden Teenies mit einem gut ausgestatteten Jugendclub, wo die Mitarbeiter Zeit haben, nebenher zu beraten. Die Arbeit der HZE-Träger, so Kohlhoff, solle es weiter geben, aber sie müsste wieder über pauschale Zuwendungen finanziert werden. (siehe Kasten).

Auch die HZE-Träger haben ein Interesse, die „enormen Steigerungen“ im HZE-Bereich zu begrenzen, sagt beispielsweise Martin Apitzsch vom Diakonischen Werk. Die Praxis der Bezirke, pro Familie weniger Stunden zu verfügen, habe dazu geführt, dass auch weniger dramatische Fälle diese Hilfe bekamen – obwohl ihnen vielleicht schon mit „niedrigschwelligerer“ Hilfe gedient wäre, wie es Thomas Lamm von der Pestalozzi-Stiftung formuliert. Aber die Ämter für soziale Dienste hätten aufgrund von Sparmaßnahmen gar kein Personal mehr für Beratungen oder Gruppenarbeit und würden gelegentlich HZE verfügen, „weil sie gar nichts anderes mehr tun können“.

Eine Stigmatisierung durch HZE sehen Lamm und Apitzsch nicht. „Wir bauen auf die Stärken der Familien und sorgen dafür, dass sie wieder allein zurecht kommen“, sagt Thomas Lamm. Die Dauer der Hilfen würden immer kürzer. Lamm schwebt eine Umsteuerung nach Stuttgarter Vorbild vor. Dort würden nach dem Motto „Normaleinrichtung vor Spezialeinrichtung“ Kitas und Schulen so mit zusätzlichem Personal gestützt, dass HZE-Maßnahmen unnötig sind. Die zehn Träger hätten die Stadt unter sich aufgeteilt und würden pauschal über Zuwendungen finanziert.

Auch aus dem Hamburger Amt für Jugend hört man Signale für eine Umstrukturierung. Der Etat für ambulante Hilfen, so Herbert Wiedermann, Leiter der Abteilung Hilfen für Kinder, Jugendliche und ihre Familien, habe sich seit 1997 mehr als verdoppelt, das Stellenvolumen von 79 auf 420 erhöht, und „dem steht keine Verschärfung von Problemlagen gegenüber“. Man habe von der Bürgerschaft mehrfach die Auflage bekommen, den Etat einzuhalten und eine „Umsteuerung in die offene Kinder- und Jugendarbeit vorzunehmen“, sagt auch Behördensprecherin Viola Griehl. Eine Million Mark wurden deshalb 2000 für fünf sogenannte „Schnittstellenmodelle“ bewilligt, wo sozialpädagogische Einzelfallhilfe an niedrigschwellige offene Angebote angegliedert wird.

Wiedermann räumt ein, dass HZE eine stigmatisierende Wirkung haben kann, „wenn man es schlecht macht“. Dem gegenüber dominiere aber der Hilfeaspekt. „Wenn in Hamburg ein Kind misshandelt wird, hat es gute Chancen, dass ihm geholfen wird“.“Dennoch habe der Ausbau des Hilfssystems zu einer Zer-splitterung geführt. Da sich die HZE-Fälle auf bestimmte „Sozialräume“ konzentrieren – über 200 gibt es allein in der Rahlstedter Siedlung Großlohe – müsse man sich fragen, ob man dort mit dem Geld nicht präventiv etwas anderes anbieten könne. Von Trägermonopolen für Distrikte wie in Stuttgart hält er nichts. Auch nichts von einer Abschaffung der Fachleistungsstunde, „denn Zuwendungen machen die Träger nicht gerade innovationsfreudiger“.

Die Notwendigkeit „niedrigschwelligerer“ Angebote und „sozialräumlicher Planung“ sehen also alle. Die Frage ist, wie der Kuchen verteilt wird. Die HZE-Träger würden solche Maßnahmen gern in ihre Angebotspalette integrieren, die Vertreter der offenen Sozialarbeit lieber ihre Einrichtungen stärken.

Es sei notwendig, wegzukommen von „meins und deins“ apelliert Wolfgang Hammer, der im Amt für Jugend für die offene Kinder- und Jugendarbeit zuständig ist. Er streitet vehement dafür, die soziale Infrastruktur zu stärken, da es „eher der Menschenwürde“ entspreche, sich in bestehenden Netzwerken Rat zu holen, als sich „dem Amt gegenüber mit einer Erziehungsproblematik zu offenbaren“. Hammer fordert eine Öffnung zwischen HZE und offener Arbeit und stützt sich dabei auch auf einen Bürgerschaftsbeschluss vom Dezember, der von der Jugendbehörde ein Konzept für „Schnittstellenprojekte“ fordert.

SPD-Abgeordneter Thomas Böwer hat diesen Beschluss mit auf den Weg gebracht: „Die Frage ist: Wie schaffen wir einen besseren Zugang zur Klientel?“. Die HZE-Träger sprächen mitunter nicht die richtige Sprache, liefen Gefahr, „zu mittelschichtsorientiert“ zu arbeiten. Der Sozialpolitiker fordert „sozialräumliche Planung“. Allerdings will er dabei „behutsam“ vorgehen. Andernfalls würde man die Jugendhilfe zu einer „Großbaustelle à la Potsdamer Platz machen“.

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