: Lügengeschichten vor dem Gericht
Die Bedeutung von Ehre und Gesichtsverlust, den Makel einer Scheidung im islamischen Kulturkreis verstehen deutsche Gerichte nicht. Ein Gespräch mit Gülcin Güven, türkischstämmige Rechtsanwältin aus Berlin
taz: Welche Nachteile können daraus entstehen, dass in Deutschland eine Scheidungsklage erst mit der Zustellung, in der Türkei bereits mit der Einreichung bei Gericht rechtshängig wird?
Gülcin Güven: Es kommt zu einem Wettlauf: Hier wird die Scheidung eingereicht, da aber die Rechtshängigkeit erst mit Zustellung erfolgt, fährt der andere Ehepartner schnell in die Türkei und reicht dort die Scheidung ein. In der Türkei ist die Scheidung bereits rechtshängig mit Einreichung bei Gericht. Das hat dann zur Folge, dass das Verfahren in der Türkei stattfindet. In der Regel sind das die Männer, die in die Türkei gehen. Türkische Fauen, die in Deutschland leben, verfügen meist nicht über ausreichende finanzielle Mittel, um die Reise in die Türkei anzutreten, geschweige denn dort einen Anwalt zu beauftragen. Das kann ihre Rechtsstellung sehr beeinflussen.
In welcher Weise?
In der Weise, dass nach meiner bisherigen Erfahrung vor türkischen Gerichten ohne weiteres allergrauenhafteste Lügengeschichten über den anderen Ehegatten ausgebreitet werden. Oft sind daran Angehörige beteiligt, die immer in der Türkei gelebt haben, die nie mit diesem Ehepaar in Kontakt getreten sind, angeblich aber über alles genauestens Bescheid wissen. Lesbische Beziehungen, Ehebruch stehen als Vorwurf meist gegenüber der Frau im Raum. Können solche Aussagen nicht von Gegenzeugen entkräftet werden, gelten sie. Aufgrund solcher verlogener Aussagen wird die Ehefrau als schuldig geschieden.
So hat sie immerhin die Scheidung, die sie gewollt hat. Kann ihr dann nicht egal sein, ob sie schuldig geschieden wurde oder nicht?
Nein. Zum einen ist dies auch eine Frage der Ehre gegenüber dem Familienverband. Durch den Zusammenhalt der türkischen Familien, manchmal ist die Schwiegerfamilie oft sogar die eigene Verwandtschaft, also die Onkel- oder Tantenseite. Da spielt es durchaus eine große Rolle, warum man geschieden wird. Die Frauen haben ohnehin größte Bedenken, selbst die Scheidung einzuleiten, weil sie sich allein damit bereits schuldig machen.Und das Wichtigste ist natürlich: Eine schuldhafte Scheidung hat unter Umständen Auswirkungen auf den Unterhaltsanspruch, auch im Erbrecht. Vor allem aber beieinflusst die Schuldfrage auch die Sorgerechtsentscheidung. Denn wenn solche Vorwürfe unwidersprochen stehen bleiben, und dies scheint vor türkischen Gerichten häufig vorzukommen, wird man einer solchen Mutter natürlich die Kinder nicht überlassen.
Wie kommt es denn, dass die Väter so viel Interesse daran haben, in Scheidungsprozessen auf Kosten ihrer Frauen das Sorgerecht für ihre Kinder zu bekommen?
Ja, es fällt auf, dass vorher wenig Interesse für die Kinder da war. Und kaum kommt es zu einem Verfahren, ist plötzlich das Interesse groß. Das ist sehr merkwürdig, aber ich meine, auch dies ist eine Frage der Ehre, des Gesichtsverlustes. Und dieser Punkt ist vielleicht auch eine Schwierigkeit für deutsche Gerichte. Sie können diese Bedeutung der Ehre und des Gesichtsverlusts nicht nachvollziehen. Ich habe den Eindruck, da wird oft Besitz ergriffen von den Kindern. Oft stacheln die Großeltern oder sonst wer den Ehepartner dazu an, dass er um seine Kinder kämpfen muss und diese nicht aufgeben darf. Scheidung bedeutet immer einen Makel.
Wird die Frau auch bedroht?
„Ich hole die Kinder, und ich bringe sie in die Türkei.“ Das ist eine Standarddrohung türkischer Ehegatten. Sie wird zwar in den meisten Fällen nicht wahr gemacht, beängstigt aber die Mütter, und verängstigt natürlich auch die Kinder.
Interview: ALKE WIERTH
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen