: Näher und näher auseinander
Sie sammelt Dinge, pflegt sie nicht, sondern lässt sie in Würde verkommen. Er registriert sein Befremden, versucht zu verstehen, nimmt hin. Er liebt
„Sie strich mir übers Haar. So lagen wir lange schweigend da. Das Weltall ruhte aus wie ein großer Vogel.“
Dies ist kein Satz aus John Bayleys „Elegie für Iris“ (1). Aber er könnte dort zu finden sein, vielleicht am Ende.
Es ist ein Satz von Iris Murdoch, aus ihrem ersten Roman „Unter dem Netz“ (2). Als sie das Manuskript fertig gestellt hatte – bevölkert von sympathischen und leicht verbummelten Gestalten einer bescheidenen Londoner Boheme der 50er-Jahre – lernte sie ihren Mann, John Bayley, kennen. Die beiden fuhren mit den Fahrrädern von einer Abendeinladung zusammen fort, und sie erwähnte das Buch. „‚Sie dürfen es aber niemandem erzählen‘, sagte sie, indem sie anhielt und einen Fuß auf den Boden stellte. Sie sah mich voll an, und ihr Ton war leicht, aber auch sehr ernst. ‚Ich will nicht, dass es jemand anderes erfährt.‘“
Bayley ist zutiefst berührt von diesem Geständnis. Er, der sich sogleich verliebt hatte, sieht in dieser ernsten kleinen Unterhaltung am Straßenrand eine Bestätigung seiner Zuneigung. Ein Pakt ist geschlossen, die Urszene der Intimität zwischen Iris und ihm hat stattgefunden – und mit Verwirrung muss er später feststellen, dass offenbar ein Missverständnis vorlag. „Als ich sie besser kennen lernte, hatte ich bald Anlass, mich zu fragen, ob sie das Geheimnis ihres Romans in Wirklichkeit nicht einer ganzen Reihe von Leuten enthüllt hatte.“
Aber er kann diese Ahnung nicht übel nehmen: Die empirische Person Iris Murdoch folgt Intuitionen, wie er im Laufe seiner Werbung feststellt, die etwas Paradoxes an sich haben. Und Bayley beurteilt sie nicht nach den nächstliegenden Maßstäben – der Normalität oder auch der Psychologie. Er registriert sein Befremden, er versucht zu verstehen, und wo er nicht verstehen kann, da nimmt er hin – weise und ohne nennenswerten Verdruss, mit Aufmerksamkeit, aber ohne Kritik. Er liebt.
Es macht einen nicht unerheblichen Reiz dieses Rückblicks auf eine Ehe aus, dass man von beiden Protagonisten verwirrt ist. Die intellektuelle und moralische Urteilskraft wird in einem fort affiziert, während auf der Ebene des Gemüts sich Empathie entwickelt – in einer Rasanz, die wiederum im Gegensatz zur Gelassenheit dieser Erzählung steht. Es dauert nicht lange, bis Bayley feststellt – und seinen Lesern mitteilt –, dass Iris Murdoch, als er sie kennen lernt, in einer selbstverständlichen Weise diverse erotisch gefärbte Beziehungen gleichzeitig unterhält, ohne im Geringsten den Eindruck einer leichtlebigen oder gar wahllosen Person zu machen. Seine anfängliche Erleichterung, dass die Frau, in die er sich verliebt hat, keineswegs attraktiv ist und selbst in der ästhetisch bescheidenen Gelehrtenwelt Englands nicht als begehrenswert gelten kann, weicht einer weiteren Überraschung.
Murdoch ist damals Anfang der Dreißig und Philosophiedozentin in Oxford, der Literaturwissenschaftler Bayley einige Jahre jünger und noch nicht einmal am Beginn seiner akademischen Karriere (3). Iris pflegt zu festgesetzten Zeiten ältere Herren zu besuchen – bedeutende Gestalten des Geisteslebens, die in London und Umgebung ihr Emigrantendasein der Vierzigerjahre auf eine komfortablere Weise fortsetzen.
Einer war der Althistoriker Arnoldo Momigliano, ein anderer der Altphilologe Eduard Fraenkel; die gewissermaßen deutlichste Beziehung hatte sie jedoch zu Elias Canetti (4), dem „Monster von Hampstead“ (5). „Er hatte mehrere Geliebte, die Iris alle kannte, und, wie mir schien, fast so sehr verehrte wie den großen Mann selbst. Auch seine Frau verehrte sie. Manchmal sprach Iris von dieser Frau, von ihrem lieben Gesicht und seinem Ausdruck geduldiger, zurückhaltender Akzeptanz. Sie war manchmal in der Wohnung, wenn der Dichter mit Iris schlief, sie besaß wie ein Gott.“
Obwohl es schwer fällt, diese Beschreibung Veza Canettis – von deren Selbstopferung wir inzwischen mehr wissen, als Bayley erwähnt (6) – als zutreffend zu akzeptieren, erlahmt doch schnell das unvermittelt aufzuckende Bedürfnis, die Empfindungswelt Murdochs unter den sich aufdrängenden Kriterien der Beziehungspolitik zu analysieren (um sie dann zu beurteilen): Zu intensiv und auf rätselhaft bleibende Weise stimmig ist der Eindruck, den Bayley von der jungen Iris Murdoch in den Erinnerungen gibt: Sie war, wie sie war, und da Bayley selbst mit einem Respekt, der ein notwendiger Bestandteil (oder eine notwendige Folge) seiner Liebe zu sein scheint, die tatsächliche Iris beschreibt, ohne zu hadern – indem er ihre Besonderheit akzeptiert und nicht in eine Beziehung zu sich setzt – stellt sich eine frei schwebende Aufmerksamkeit bei der Lektüre der „Elegie für Iris“ ein, die selbst ein seltenes Erlebnis ist.
Murdochs philosophisches Hauptwerk sind Vorlesungen mit dem Titel: „Metaphysics as a Guide to Moral“, ein ernsthafter Versuch, in der von der analytischen Philosophie geprägten anglistischen Welt die kantianische Verfassung des Menschen zu rehabilitieren (7). Ihr Leben, von Bayley beschrieben, gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass sie Moralität nicht mit der peinlichen und selbstzerstörerischen permanenten Gewissensprüfung verwechselt, wie sie der akademischen Ethik des 20. Jahrhunderts eigen ist: Vielmehr scheint sie von ihren Erfahrungen mit der griechischen Philosophie inspiriert, deren Diskussion moralischer Fragen ohne Pedanterie und Quälerei auskommt und Erwägungen der Sittlichkeit und Schicklichkeit in ruhiger Selbstgewissheit gesellschaftlichen Normen zuordnet – die für Murdoch oft ohne größere Bedeutung waren.
Bayley beschreibt einige Eigentümlichkeiten ihres gemeinsamen Lebens mit jenem freundlichen Achselzucken, das dieselbe Souveränität zum Ausdruck bringt – zum Beispiel ihr Desinteresse an materieller Ordnung, das zu einer gewissen Verkommenheit ihrer Wohnverhältnisse geführt haben muss. „Vom ersten Tag unserer Ehe an haben wir uns nie groß um Hausarbeit gekümmert. Täglich immer wieder zu erledigende Dinge gab es nie. Keiner von uns hatte das Bedürfnis, das Haus sauber zu halten, und der Gedanke, dass jemand anders kommen und es für uns tun könnte, störte uns. Inzwischen hat der Zustand des Hauses einen Punkt erreicht, von dem es wirklich kein Zurück mehr gibt. Wenn man den Staub in Ruhe lässt, scheint er sich mit Leichtigkeit in die allgemeine Kulisse einzufügen.“
Iris und er wohnten in diversen Häusern, von denen eher sie sich bewohnen ließen. Ratten auf dem Dachboden, verkümmernde Rosenstöcke im Garten und ein friedliches Miteinander von zerknitterten Unterröcken, Pappkartons, alten Zeitungen und Büchern beeinträchtigten beide kaum. „Mr. Palmer, ein alterfahrener Handwerksmeister mit sehr blauen Augen, war aus unserem Haus bald nicht mehr wegzudenken. Oft stand er und staunte Iris an, wenn sie in einem Zimmer im Obergeschoss saß und schrieb, während Wasser aus einer nicht auffindbaren Quelle von der Decke tropfte.“
Dennoch hing Iris an auserwählten Dingen; sie sammelte Steine und andere Erinnerungsstücke an Reisen und Menschen, pflegte sie jedoch nicht, sondern ließ sie in Würde verkommen. „Ich war nicht ganz so überzeugt von den Vorteilen dessen, was die Romanschriftstellerin Rose Macaulay – mit der Iris ein- oder zweimal zusammengetroffen war – mit den Worten ‚die Sachen vor die Hunde gehen lassen und sehen, was passiert, wenn sie dort angekommen sind‘ beschrieben hat.“
Sich um etwas zu kümmern, war offensichtlich nie Murdochs Interesse – und bescherte ihr und Bayley eine ungewöhnlich luftige Beziehung. „Denn es hatte bereits jener eigenartige und wohltätige Prozess eingesetzt, in dessen Verlauf ein Paar ‚enger und enger auseinander rückt‘, wie der australische Lyriker A. D. Hope schreibt. Dieses Auseinandersein ist Teil der Nähe, vielleicht sogar ihre Bestätigung, ganz gewiss aber ein Zeichen vollkommenen Verstehens. Es ist ein Verstehen, das nichts Bedrohliches oder Kontrollierendes an sich hat, nichts von dem, was Ehepaare in Wirklichkeit meinen, wenn sie Vertrauten oder Beratern gegenüber sagen (oder angeblich sagen), dass ihr Partner sie nicht verstehe. Denn das heißt im Allgemeinen, dass ein Partner den anderen nur zu gut versteht (oder beide einander) und es lieber nicht täte.“
„Elegie für Iris“ ist ein Buch über eine Ehe – und eines über eine Krankheit. Wäre Murdoch nicht Mitte der Neunzigerjahre an Alzheimer (8) erkrankt, hätte Bayley diese Elegie vermutlich nie geschrieben. Es macht ein weiteres und gewissermaßen systemisches Paradox dieses Buches aus, dass nicht der Bruch, sondern die Kontinuität im Vordergrund steht. Einerseits ist keine größere Tragik denkbar für eine Philosophin und Schriftstellerin als ein nicht enden wollender Zustand, in dem keine ganzen Sätze oder auch nur Gedanken sich mehr formen lassen. Andererseits widmet sich Bayley in seinem Erzählen mit größerem Interesse der Fortsetzung und Umformung von Gewohnheiten und Eigenschaften. „Ihr war das Leben unbelebter Gegenstände schon immer wichtig gewesen. Ihr widerstrebte der Gedanke, die Flasche“ – welche die beiden Verliebten bei einem nächtlichen Picknick geleert hatten – „einfach dazulassen. Obwohl sie sich damals zusammennahm, empfand sie echte Trauer um die zurückgelassene Flasche, und daran muss ich heutzutage denken, wenn sie sich wie eine alte Stadtstreicherin bückt, um Fetzchen Bonbonpapier oder Zigarettenstummel vom Bürgersteig aufzuheben. Sie ist mit ihnen im Einklang und wird ihnen, wenn sie kann, ein Zuhause geben.“ Aus ihrem Leben ist jene Unabhängigkeit verschwunden, die so lange ein unausgesprochenes Gesetz des Zusammenlebens war. „Das Leben bringt Iris und mich nun nicht mehr ‚näher und näher auseinander‘, wie es der Dichter mit liebevoller Ambiguität ausgedrückt hat. Jeden Tag rücken wir ein Stück näher zusammen. Wir könnten auch gar nichts anderes tun. Entschlossen, beharrlich, unfreiwillig geht es mit unserer Ehe jetzt voran. Sie lässt uns gar keine andere Wahl, und ich bin froh darüber.“
Rituale, gewohnte Scherze, Redewendungen und Lieder erweisen sich als Möglichkeiten einer Verständigung des Gefühls; es gibt ein Lächeln des Wiedererkennens, das mimetisch zu sein scheint. Bayley sucht nach Situationen, in denen er und Iris etwas annähernd Ähnliches erleben – zum Beispiel bei den „Teletubbies“ (9) oder beim Baden im Fluss, das beide immer genossen haben. Trotzdem kommt es vor, dass ihm schlicht die Nerven durchgehen – beim Busfahren, wenn Iris sich „daneben benimmt“, oder wenn sie die Topfpflanzen gießt, bis sie ertrinken. „Die Wut war ganz plötzlich da, wie aus heiterem Himmel. ‚Ich habe dir doch gesagt, du sollst das lassen! Ich habe dir gesagt, du sollst das lassen!‘ In diesen Augenblicken der Raserei haben weder sie noch ich eine Ahnung, wovon ich rede. Aber die Person, die da spricht, drückt sich bald klarer aus. Auch kalt und tödlich. ‚Du bist verrückt, bekloppt. Du weißt nichts, erinnerst dich an nichts, scherst dich um nichts.‘ Die Worte werden von wilden, aggressiven Gebärden begleitet. Iris zittert heftig. ‚Also‘, sagt sie, und diesem banalen Vorspiel zu einer scheinbar vernünftigen Bemerkung (in diesem Tonfall oft bei BBC-Diskussionen gehört) folgt für gewöhnlich ein nicht ernst zu nehmendes Geplapper, das die Frage nicht beantwortet. Iris’ ‚Also‘ fällt zurück in Äußerungen wie ‚wenn er kommt‘ oder ‚muss für einen anderen jetzt es tun‘ oder ‚aufhören gut zu borgen wenn‘. Ich ertappe mich dabei, wie ich im Spiegel den Mann anschaue, der gesprochen hat. Ein fürchterliches Gesicht, pflaumenfarben.“
Nein, es gibt keine Überzuckerungen des Elends in diesem Buch. Er muss sie an- und ausziehen und waschen, und manchmal erinnert ihn ihr Geruch an den ihrer Mutter, „als sie schon ältlich war und nicht mehr ganz beieinander“ (auch Iris’ Mutter hatte die Alzheimersche Krankheit). Sie läuft hinter ihm her, sie kann ihn nicht aus den Augen lassen. „Wenn Iris heute in mich hineinkriechen oder, wie ein Kängurujunges in den Beutel seiner Mutter, zu mir hineinschlüpfen könnte, würde sie es tun. Sie ist sich nicht dessen bewusst, was ich tue, sondern nur dessen, was ich bin. Sie verfügt noch über die Wörter und Gesten der Liebe, aber die wortlose Kommunikation, deren Voraussetzung die Fähigkeit ist, Wörter zu gebrauchen, findet nicht mehr statt. Ihre öffentliche Sprache hat sie sowieso verloren, und unsere private bringt uns nicht mehr weit.“
Das Elend wird beschrieben und ist doch nicht beherrschend. Vielleicht ist hierfür die mir typisch englisch erscheinende Mischung aus Respekt und Pathosvermeidung verantwortlich; Bayley berichtet schonungslos, ohne zu denunzieren, aufrichtig und zugleich diskret, nicht selten humorvoll, nie sentimental. Doch ist sein Text von einem Mitgefühl getragen, das ihn mit einschließt – und das macht möglicherweise die Balance dieses besonderen Buches aus. Nie wird der Mann der Kranken deren Wärter, auch nicht zum selbstlosen Dulder; er macht sich nicht größer noch kleiner. Über ihr Ende schreibt Bayley nichts.
Man wünscht, der Satz aus Iris Murdochs erstem Roman könnte dazu gepasst haben.
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