Nory im Wunderland

Nicholson Baker versucht sich an einem Kinderbuch. In „Norys Story“ erzählt er Geschichten,die an der Grenze der Vernunft kurz mit den Schultern zucken und dann wacker voranschreiten

Nora weiß erstaunliche Dinge.Zum Beispiel, dass vor langer ZeitSeeleute Schweine über Bord warfen,um zu sehen, wohin sie schwammen.

von FRANK SCHÄFER

Was ist es bloß, das studierte, intelligente und mitunter sogar durchaus ernst zu nehmende Mitmenschen an Kinderbüchern fasziniert? Die Rousseausche Lehre von der ursprünglichen Reinheit und nachgerade paradiesischen Unschuld des Menschen, die sich durch Erziehung unablässig verlören, wird niemand mehr so recht glauben wollen – zu schön, um wahr zu sein. Aber ein leises, von warmen Geigen der Nostalgie begleitetes Echo dieser Vorstellung klingt denn wohl doch in vielen Köpfen nach: Die Kindheit ist allemal eine Art Sehnsuchtsort, an den sich manch einer gern via Lektüre zurücktragen lässt (und die subjektiv empfundene Rührung bei diesem Akt der Anamnese wird skandalöserweise bei einem Blumenkind nicht größer sein als, sagen wir mal, bei einem ehemaligen Hitler-Jungen). Für den Literaten kommt noch etwas hinzu: In der Kindheit lassen sich eben auch – so will es das Klischee – quasi in Reinkultur jene von der Ratio noch nicht vollständig domestizierten Bewusstseinszustände aufspüren – das freie Flottieren der Fantasie mithin, das für Poesie ja schlechthin konstitutiv ist.

Das mag der Grund für einen bisher dezidiert nicht jugendfreien Autor wie Nicholson Baker gewesen sein – den man vor allem durch seine erotisch aufgeladenen Romane „Vox“ und die „Die Fermate“ schätzen lernen konnte –, sich nun auch im Kinderbuchgenre zu versuchen. Er macht das Klischee für sich poetologisch fruchtbar. Für ihn ist es gewissermaßen die Lizenz, Geschichten zu erzählen, in denen sich die Balken der Realität nur so biegen, Geschichten, die an den Grenzen der Vernunft mal kurz mit den Schultern zucken, aber dann wacker voranschreiten.

All das passiert hier im Namen Norys, eines neunjährigen, überaus fantasiebegabten Mädchens, das aus Palo Alto, Kalifornien, mit seinen Eltern und dem kleinen Bruder „Littleguy“ – übrigens genauso ein anarchischer Geschichtenerzähler wie sie – in die englische Kleinstadt Threll zieht. Sie vermisst die gewohnte Umgebung, noch mehr aber ihre Freundin Debbie, muss sich an die neuen Mitschüler gewöhnen, die sie wegen ihres amerikanischen Dialekts anfangs ein wenig verspotten, eine neue „beste Freundin“ finden und aufpassen, dass sie sich wegen ihres katastrophalen Ortsgedächtnisses nicht ständig verläuft. Aber Nory lässt sich nicht unterkriegen, ihre kalifornische Lockerheit, viel Witz und unverrückbare moralische Grundsätze helfen ihr, sich mit der neuen Situation zu arrangieren, und da wartet auch schon das nächste Problem. Ihre Mitschülerin Pamela wird von der Gemeinschaft ausgegrenzt und schikaniert, mutig sucht Nory ihre Freundschaft, nimmt den Kampf gegen das grausame Kinderkollektiv auf und erreicht nach einigen verbalen Scharmützeln schließlich, dass auch sie akzeptiert wird. Nory bekommt für ihr soziales Engagement eine Belobigung vom Schulleiter, Pamela wird ihre „beste Freundin“ – und „Ende der Geschichte“ (resp. „aus die Maus“).

Baker erzählt nicht nur aus der Perspektive des Kindes, sondern auch in dessen Diktion. Dass eine solche Stilimitation nur annäherungsweise glückt, dass der Text also von Inkonsequenzen nur so strotzt, wird man sich denken können, fällt aber nicht weiter auf, weil dieses betont unintellektuelle Erzählparlando einen Lesefluss erzeugt, der Ungereimtheiten schnell hinter sich lässt. Und weil sich überdies der angenehm unaufgeregte, nicht auf eine schnelle Pointe zugespitzte Witz des Buches, das denn auch eher in der Tradition des klassischen humoristischen Erzählens steht, wie auch sein verhaltenes Sentiment zu großen Teilen aus dieser Simulation speist: „Roger Sharpless war ein sehr kleiner Junge mit einem intelligenten Gesicht wie ein Detektiv, und er weinte am ersten Tag in der Kathedrale während des Eröffnungsgottesdienstes . . . Er sagte, der Anblick des kleinen weißen Kissens auf dem Bett in seinem Zimmer erinnere ihn an sein altes Zimmer und da müsse er dann weinen, denn das muss man sich mal vorstellen: Wegzugehen von allem, was man kennt, von den Teppichen, den Fenstern, den Eltern, der Einfahrt, dem genauen Aussehen der Straße, das kann für einen Neunjährigen ein ziemlicher Schock sein. Er erzählte ihr auch von etwas, was er, wie er sagte, sein Leben lang nicht vergessen würde, weil er es mal in einem Test falsch gemacht hatte: Die Griechen schrieben, indem sie Zeichen in Wachs ritzten.“

Baker zieht die Schraube der Imagination allerdings noch eine Umdrehung weiter an, wenn er obendrein die kindlichen Fiktionen nachahmt und in diese Alltagshandlung integriert, Norys Albträume und nachgerade surrealen Storys nämlich, die sie sich, ihren Puppen oder auch mal ihren Eltern erzählt. Die haben Baker beim Schreiben wohl am meisten Spaß gemacht, hier kann er ohne Rücksicht auf Realitätsverluste drauflosfabulieren, da strecken Mumien ihre schwarzen, fauligen Zungen heraus, da werden Waschbärinnen zu Meerjungfrauen, da gibt es brennenden Regen und manches mehr. Diese Geschichten in der Geschichte bilden denn auch das anarchistische Korrektiv zur sanft didaktischen, moralisch einwandfreien Rahmenhandlung. Hier herrschen andere Gesetze, nämlich gar keine!

Was „Norys Storys“ über diese Exaltationen der Fantasie hinaus literarisch belangvoll macht, ist die veränderte und folglich für den nachpubertären Leser immer wieder originelle Sicht auf die Realität. Indem Baker in die Rolle des Kleinkinds schlüpft, eignet er sich auch dessen Fähigkeit an, unsystematisch zu denken, auf die Details zu schauen, das gänzlich Banale noch ernst nehmen und über das Alltägliche sich wundern zu können. Das ist allemal lehrreich. Lehrreich ist das Buch aber auch, weil Nory für eine Neunjährige wirklich erstaunliche Dinge weiß – zum Beispiel, „dass vor langer Zeit Seeleute Schweine über Bord warfen, um zu sehen, wohin sie schwammen, weil dort, wohin sie schwammen, immer Land war. Oder dass ein Kater, wenn er ohne Schwanz gezüchtet wird, nicht fühlen kann, wo es aufs Klo geht, weil der Schwanz sein Sinn dafür ist, wo es aufs Klo geht.“ Wer weiß so was schon noch?

Nicholson Baker: „Norys Story“. Rowohlt Verlag, Reinbek 2000. 320 Seiten, 42 DM