: Immer noch Risse im Schatten
■ Auszeichnung für Mädchenberatungszentrum „Schattenriss“/Gründerinnen Ursula Müller und Ingrid Hebel kritisieren: Es fehlen Konzepte im Umgang mit TäterInnen/ Ein Interview
Seit 13 Jahren gibt es in Bremen eine Beratungsstelle gegen den sexuellen Missbrauch an Mädchen. In gewisser Hinsicht ist diese Tatsache einer Schlachters-Witwe zu verdanken, die ihr Ladenlokal in Walle damals lieber dem Verein Schattenriss als einer Videothek vermietete. Heute Abend wird allerdings nicht sie für ihr Engagement gegen Gewalt an Frauen und Mädchen zur „Bremer Frau des Jahres 2000“ ausgezeichnet, sondern die beiden Gründerinnen von Schattenriss: die Lehrerin Ursula Müller und die Psychologin Ingrid Hebel (die taz berichtete). Aus einer Seminargruppe, die sich Mitte der 80er Jahre mit dem Tabuthema „sexueller Missbrauch von Mädchen“ zunächst theoretisch beschäftigte, ist die Schaltzentrale des Handelns in akuten Notfällen und der Prävention entstanden. TrägerInnen sind allerdings nicht mehr FreundInnen, mit deren Spenden das winzige Büro in Walle angemietet werden konnte. Der seit 1991 bestehende Haushaltstopf für Hilfe bei Gewalt gegen Kinder – aus dem sich auch noch das Kinderschutzzentrum und das Mädchenhaus bedienen – deckt vier Fünftel der laufenden Kosten. Das verbleibende Fünftel wird durch Spenden, Bußgelder und Fortbildungsveranstaltungen zusammengekratzt, um die sechs Mitarbeiterinnen und die großzügige und freundlich gestaltete Villa in Gröpelingen über die Runden zu bringen. Netzwerke und Kontakte sind offenbar alles: Als die durchaus feudale Hütte 1992 freistand, steckte eine Sekretärin im Ortsamt West den Schattenriss-Frauen die Info. Vielleicht hatte auch sie was gegen Videotheken.
taz: Außer der Ehre „Frauen des Jahres“ fällt für Schattenriss nichts ab. Ist die Auszeichnung ein politisches Signal, um Mittelkürzungen entgegenzuwirken?
Ursula Müller: Es kann eine Unterstützung sein, bezogen auf die Kürzungen, die wir genau wie alle anderen hinnehmen müssen. Wenn die Spirale mit drei Prozent Mittelkürzungen pro Jahr so weitergeht, können wir uns ganz schnell ausrechnen, dass wir dann alle weniger arbeiten müssen, oder eine Stelle ganz gestrichen werden muss. Die Auszeichnung ist aber auch eine Anerkennung der 13 Jahre Arbeit und des Netzes, das wir geschaffen haben. Ein frauenpolitisches Signal ist, dass „Keine Gewalt gegen Frauen und Mädchen“ damit ein wichtiges Thema bleibt.
Reichen die vorhandenen Stellen aus für die anstehende Arbeit?
Müller: Generell bräuchten wir schon zwei Frauen mehr. Dann könnten Bereiche ausgedehnt werden, die jetzt stiefmütterlich behandelt werden, weil wir dazu keine Zeit haben. Zum Beispiel fänd' ich es ungeheuer spannend, den Präventionsbereich auszuweiten, mehr Angebote machen zu können für Mädchen, wo die sich ausprobieren können. Etwa: „Wer bin ich eigentlich? Wo sind meine Grenzen? Wie gehe ich mit diesen Grenzen um? Wie schaffe ich es, mich in bestimmten Situationen durchzusetzen mit meinen Wünschen und Bedürfnissen?“
Stichwort „Prävention“: Arbeiten Sie auch mit Tätern und Täterinnen zusammen?
Müller: Nein. Es gibt in Bremen Einzelpersonen, die therapeutische Angebote machen für TäterInnen – wenn diese sich einer Therapie unterziehen wollen oder müssen – und an die wir verweisen, aber es gibt in Bremen keine Institution, die sich da speziell drum kümmert. Das ist ein großes Manko.
Ingrid Hebel: Unserer Meinung nach ist es ganz dringend notwendig, Täter nicht nur einzuknasten, sondern neben Bestrafung auch ein Hilfsangebot zu machen; nicht die Alternative „Hilfe oder Strafe“ – Strafe muss immer zusammengehen mit Hilfe.
Müller: Was bisher fehlt sind soziale Trainingskurse und, anders als in anderen Bundesländern, gibt es in Bremen keine geregelte Zusammenarbeit zwischen Justiz und Beratung. Es könnten zum Beispiel Bewährungshelfer in ein System eingebunden werden, um zu kontrollieren: „Wie läuft der Prozess? Wie läuft die Auseinandersetzung?“ Da muss noch ganz viel passieren, aber das ist nicht unsere Aufgabe.
Wer wäre gefordert, sich für eine Verbesserung der Zusammenarbeit einzusetzen?
Müller: Die Justiz müsste ein Interesse daran haben, weil die ansonsten die Menschen immer wieder sehen, wenn die ihre Taten wiederholen. Aus Therapeutensicht ist das Interesse auch noch zu mager.
Hebel: Es kann nur so aussehen, dass aus allen möglichen gesellschaftlichen Institutionen Impulse kommen und dass über den eigenen Tellerrand hinausgeguckt wird. Was es zum Beispiel in anderen Bundesländern gibt.
Müsste Prävention nicht auch ein Auftrag an die Schulen sein?
Müller: Ja, das finde ich auch! Also ich mache seit 1989 Angebote für die Schulen im Rahmen von LehrerInnenfortbildungen, aber auch Beratungen für Mädchen und Eltern. Oder ich werde zu Projektwochen eingeladen, helfe Mädchengruppen aufzubauen. Da läuft schon ganz viel.
Hebel: Es ist eher so, dass wir keine Zeit haben, den vielen Anfragen nachzukommen. Diese sehr enge Zusammenarbeit mit Schulen ist bundesweit einzigartig.
Müller: Es wäre wunderbar, wenn es außer mir noch eine zweite Frau gäbe oder einen Mann, der sich mit der Jungenseite beschäftigen würde.
Gibt es Beauftragte gegen sexuelle Gewalt an den Schulen?
Müller: Es gibt zurzeit eine Auseinandersetzung über sexuelle Diskriminierung, die von Lehrern ausgeht, Schülerinnen und Schülern gegenüber. Da ist Bremen relativ weit vorgeprescht. Wir planen gerade eine Fortbildung für SchulleiterInnen, wo wir die Idee vermitteln wollen: „Eigentlich braucht Ihr eine kompetente Person an eurer Schule, die dieses Problem besonders in den Blick nimmt, die sich einfach auskennt und weiß, wie damit umzugehen ist!“
Zurück zum heutigen Abend; wen hätten Sie zur Bremer Frau des Jahres gewählt?
Müller: Als klar wurde, wir sind nominiert, haben wir spontan ganz viele Namen im Kopf gehabt von Frauen, die in diesem Bereich seit vielen Jahren auch mit uns zusammenarbeiten. Wir hatten die Idee, eine lange Liste zu machen, wo alle diese Frauen genannt werden. Damit wollten wir deutlich machen: Das ist eine Arbeit, die machen nicht zwei Frauen. Da gibt es ganz viele, die auch schon seit vielen Jahren in ihrem Bereich dazu arbeiten: Rechtsanwältinnen, Sozialarbeiterinnen, Lehrerinnen ...
Hebel: Man muss ja auch dazu sagen, unsere Einrichtung ist ohne die Frauenbewegung gar nicht denkbar.
Müller: Das soll aber keine falsche Bescheidenheit sein, wir sind schon sehr stolz auf das, was wir geleistet haben, aber ohne die anderen hätten wir das nicht hingekriegt, und die ohne uns auch nicht. Das ist miteinander verwoben; das Wichtigste ist das Netzwerk.
Und was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Hebel: Ich wünsche mir eine wirkliche Absicherung. Wir sind zwar abgesicherter als viele andere Projekte, und trotzdem bleibt immer eine Spur von Zittern und Sorgen. Außerdem brauchen wir im Bereich Täter endlich umsetzbare Konzepte. Drittens müssen mit den betroffenen Institutionen und Personen Verfahrensregelungen entwickelt werden. Wir leben seit Jahren in einem System, das davon abhängig ist, wie einzelne Personen, zum Beispiel Sozialarbeiterinnen, das Thema wahrnehmen, und wie mutig sie da rangehen.
Müller: Das meine ich mit Ko-operationsstrukturen. Wenn der Senat schon einen Beschluss macht, es sollen Präventionskonzepte gegen Gewalt gegen Frauen in allen Ressorts entstehen, dann wünsche ich mir, das Ganze zur Chefsache zu erklären, damit die nötige Zeit und die nötigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Die Konzepte müssen in jedem Ressort entwickelt und dann aber auch tatsächlich miteinander koordiniert werden. Wir knüpfen jedes Mal das Netz neu, und das kostet uns viel mehr Zeit, als wir eigentlich zur Verfügung haben.
Hebel: Oder wir werden mal wieder auf so eine Position zurückgeworfen, wo wir klarmachen müssen, dass wir nicht die beilschwingenden Feministinnen sind. Und das zehrt ganz einfach an den Kräften.
Müller: Ich wünsche mir auch, dass wir soweit abgesichert sind, dass noch Zeit übrig bleibt für Öffentlichkeitsarbeit, mehr Zeit zum Luft holen, um was zu schreiben. Wir haben ein ungeheures Wissen angesammelt, und wir kriegen das nicht veröffentlicht. Es ist oft so, dass mal wieder irgendwas passiert, und wir im Nachhinein denken: „Mensch, da hätten wir mindestens einen Leserbrief schreiben können.“
Fragen: Eiken Bruhn
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