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Verbotene Frucht

„Legalize it“-Debatte um natürlichen Süßstoff: Die Pflanze Stevia ist kalorienfrei und karieshemmend, aber in Deutschland nicht zugelassen

von LARS KLAASSEN

„Natürlicher Süßstoff ohne gesundheitliche Nebenwirkungen“ – das ist keine aufgeblasene Sensationsmeldung aus einem Fitness-Magazin, sondern O-Ton der Grünen Liga, die sich für Stevia stark macht. Diese Wundersubstanz wird aus der grünblättrigen Staude Stevia Rebaudiana gewonnen, deren Blätter süßer als Zucker schmecken. Die in Paraguay beheimatete Pflanze wird von den Indianern seit mehr als 1.500 Jahren zum Süßen von bitterer Medizin und Mate-Tee verwendet. Der natürliche Süßstoff ist kalorienfrei, karieshemmend und diabetikergeeignet.

Bislang hat Stevia hier zu Lande jedoch ein unspektakuläres Schattendasein geführt: Es wurde seit über zehn Jahren in kleinen Mengen nach Deutschland importiert, die für den Nahrungsmittelbereich marginal waren. Das Saarbrücker Unternehmen GSE-Vertrieb, das Nahrungsergänzungsmittel verkauft, hat vor zwei Wochen den Handel mit Stevia eingestellt. Das geschah allerdings nicht freiwillig: Stevia wurde verboten.

Auslöser war ein Antrag bei der EU, Stevia als „novel food“ anerkennen zu lassen. Die Kriterien für solch eine Kennzeichnung sind streng. Unter die Bezeichnung „novel food“ fallen etwa Lebensmittel, die gentechnisch verändert wurden. Bei dem Pflanzenextrakt wäre dieser Antrag gar nicht nötig gewesen. Doch ist er einmal gestellt, wird das angemeldete Produkt erst nach aufwendigen Untersuchungen, die der Antragsteller durchführen lassen muss, anerkannt. Die geforderten Nachweise wurden jedoch nur unvollständig erbracht. Das Ergebnis: Das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin hat den toxikologischen Bericht als unvollständig eingestuft; Handel mit der Substanz kann nun gar mit Beschlagnahmungen geahndet werden.

Strittig ist vor allem die Wirkung des Steviols. Dieser Stoff entstand bei Tierversuchen im Blinddarm von Ratten aus Steveosid, das wiederum den Süßeffekt hervorruft. Nicht ganz geklärt ist, ob Steviol mutagen wirkt, was sich z. B. auf die Fruchtbarkeit von Frauen auswirken könnte. „Aber da beim Menschen der Blinddarm keine entsprechende Funktion mehr hat, sagen Laborversuche mit Ratten diesbezüglich noch nichts aus“, argumentiert Ulrike Sachse, die sich im Umweltkontor der Grünen Liga für Stevia einsetzt. Doch auch das Kontor hat den Vertrieb von Stevia eingestellt.

In Asien macht Stevia eine ganz andere Karriere: In Japan wird die Pflanze seit über 20 Jahren als Limonadenzusatz benutzt. Um 1970 begann man dort, bestimmte künstliche Süßstoffe wegen gesundheitlicher Bedenken zu verbieten. Dadurch wurden Untersuchungen über natürliche Süßstoffe vorangetrieben. Schon 1988 erreichte das Stevia-Extrakt in Japan einen Marktanteil von 41 Prozent.

Dass Stevia sich bislang in Europa noch nicht etablieren konnte, hat für Ulrich Höfeler, Obmann der Reformhauskette Neuform in Berlin und Brandenburg, lobbyistische Gründe: „Aus Sicht der Zuckerindustrie ist die massenhafte Verbreitung eines natürlichen und noch dazu gesunden Süßstoffs sicherlich nicht wünschenswert.“ Wie lange Neuform noch Stevia-Blätter in Teeform verkaufen kann, ist unklar.

Doch die Mitarbeiterin des Umweltkontors hat auch gute Nachrichten: In zwei bis drei Jahren könne ein neuer Vorstoß zur Legalisierung unternommen werden. Die EU wird vorausichtlich Geld bereit stellen, um die fehlenden Untersuchungen durchzuführen. Wer dann mit den süßen Blättern den großen Reibach macht, steht noch in den Sternen. In der Zwischenzeit müssen Stevia-Fans auf ihren süßen Liebling aber nicht verzichten. Die Stauden können als Balkon- und Winterpflanzen gehalten werden. Den Extrakt kann man mit Hilfe von Alkohol und Wasser ebenfalls selber herstellen; Homegrowing mal anders.

Im Umweltkontor der Grünen Liga ist eine Infobroschüre über Stevia erhältlich:Prenzlauer Allee 230, 10405 Berlin, Fon: (030) 44 33 91

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