: Eliteabsolvent oder Analphabet
Indiens Softwareingenieure stillen beinahe allein die westliche Nachfrage an hoch qualifizierten Arbeitskräften. Doch bald fehlt die Computerelite, die dem Nebeneinander miserabler Schulen und hoch kompetitiver Unis entspringt, dem eigenen Land
aus Neu-DelhiBERNARD IMHASLY
Ist Indien, das Armenhaus der Welt, plötzlich zur Fabrik für Intelligenz-Arbeiter mutiert? Der Jahrtausendwechsel ließ bei den elektronischen Netzwerken einen Kollaps befürchten – Inder lieferten die Rettungssoftware. Die Internetrevolution läuft so rasant ab, dass die Bildungssysteme der Industrieländer nicht genug Nachwuchs ausbilden – wieder sind es Inder, die zu Hilfe eilen. Bereits 1998 lag das Land mit 17 Prozent aller Software-Exporte weltweit an der Spitze. Jedes Jahr bildet es weitere 75.000 IT-Ingenieure aus – die meisten für die USA. 80 Prozent der Absolventen aus den sechs Elite-Hochschulen der IITs („Indian Institute of Technology“) wurden im Jahr 1998 von US-amerikanischen Hochschulen und Unternehmen unter Vertrag genommen.
Viele IIT-Studenten haben bereits einen Job bei Texas Instruments oder Intel, noch bevor sie ihr Hochschulstudium begonnen haben. Sie werden angeheuert, sobald sie das Eintrittsexamen für eine der vielen technischen Hochsschulen bestanden haben. Mit Recht, denn wer sich für einen der 2.000 IIT-Studienplätze qualifiziert, hat sich bereits gegen rund 125.000 Konkurrenten durchgesetzt. Von 2.000 Start-up-Firmen im Silicon Valley werden vierzig Prozent von Indern geleitet.
Ist dies dasselbe Land, das der Unicef-Bericht über den „Zustand der Kinder in der Welt“ erst vergangenes Jahr als „das ungebildetste Land der Welt“ bezeichnete? Von den 130 Millionen Kindern, denen heute in der Welt jede Schuldbildung versagt bleibt, leben 40 Millionen in Indien. Kein Wunder: 40 Prozent aller Schulen in Indien besitzen keine Wandtafel, eine durchschnittliche Schulklasse im größten Bundesstaat Uttar Pradesh zählt 58 Schüler, und ein volles Drittel der (voll bezahlten) Lehrer geht noch anderen Tätigkeiten nach.
Die Elitebildung der Kolonialherren fortgesetzt
Im Gegensatz zu kapitalistischen Konkurrenten wie Südkorea, Taiwan oder Singapur hat das sozialistische Indien die elitäre Bildungspolitik der englischen Kolonialherren, die ungebildete Kulis und „braune Sahibs“ brauchten, weitergeführt. Das indische Kastenwesen reservierte traditionell das Wissen für die höheren Kasten. „Wissen ist beim Brahmanen zu Hause, beim Bauern der Weizen, und das Lachen beim Kastenlosen“, lautet ein Sprichwort.
Trotz ihrer sozialistischen Rhetorik hatten auch die Brahmanen der Kongresspartei nach dieser Ordnung gelebt. Obwohl mit Quotenregelungen heute Brahmanen geradezu diskriminiert werden, blieben die elitären Mechanismen im Bildungssystem erhalten. Von den vier Prozent des Sozialprodukts, die in die Erziehung fließen, gehen zwei Drittel in die höhere Bildung, während die Grund- und Sekundarschulen sich mit dem Rest zufrieden geben. Laut einer Studie von 1999 findet der Primarunterricht in 29 von 100 Schulen in Lehmhütten, Zelten oder im Freien statt. Gleichzeitig hat das Land 350 Universitäten und über 1.800 Polytechnika – weit mehr als China. Doch während die Chinesen heute praktisch vollständig alphabetisiert sind, beklagt der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen, produziere das halb alphabetisierte Indien sechs Uni-Asolventen gegenüber einem in China.
Es wäre unfair, meint Veera Raghavan, der ehemalige Chef des indischen Erziehungswesens, die Erfolge indischer Absolventen allein einseitiger Staatspolitik zuzuschreiben. „Es sind nicht die Qualitäten, sondern im Gegenteil die Widerwärtigkeiten des Systems, welche Inder zum Erfolg anspornen. Wenn sich einer gegen 125.000 Konkurrenten durchsetzt, dann braucht er nicht nur einen hohen IQ, er muss auch ehrgeizig, diszipliniert, hartnäckig und aggressiv sein“, so Raghavan. In ihrer Kombination von Ambition und Intelligenz sind dies jene Qualitäten, die das Alpha-Tier charakterisieren – und das Profil westlicher HighTech-Unternehmer.
Dasselbe gilt für die Brahmanen, die in mehreren tausend Jahren ihre gesellschaftliche Macht auf Wissen aufgebaut hatten, indem sie den Zugang dazu – Schreiben und Lesen – monopolisierten. Heute sind sie eine Minderheit, die kaum mehr Chancen auf eine gutes College hat. Es sei denn, der junge Mann arbeitet so hart, dass er sich einen der wenigen verfügbaren Plätze erkämpft. Dieses System wirkt auch bei den Millionen von Mittelklasse-Eltern in den städtischen Agglomerationen. Kaum sind junge Ehepartner Eltern geworden, versuchen sie die Defizite überfüllter und schlechter Schulen auszugleichen: Sie bringen ihren Dreijährigen das Alphabet und Einmaleins bei.
„Auch Schultafeln gehören zu kluger Bildungspolitik“
Diese negativen Anreize von schlechten Grundschulen, gekoppelt mit einem elitären und kompetitiven Selektionssystem und der schieren Größe einer Gesellschaft mit einer Milliarde Menschen, hat es Indien bis heute gestattet, die Nachfragewelle für hoch qualifizierte Arbeitskräfte aufzufangen. Experten fragen aber, wie lange Indien diesen Ansturm durchhalten kann. Das Land mag zwar jedes Jahr 75.000 IT-Spezialisten produzieren, aber der Fachverband Nasscom macht bereits einen jährlichen Bedarf von 140.000 Software-Ingenieuren im eigenen Land aus.
Der „Brain Drain“ ins Ausland bedeutet auch, dass dem Land qualifiziertes Lehrpersonal und die besten Ingenieure fehlen. Indien mag mit seinen Eliteunis kurzfristig Erfolg haben. Aber dieser Erfolg droht auch die dünne Infrastruktur des gesamten Schulwesens bloßzulegen. „Nicht nur Computer-Labors“, meint der Bildungsspezialist Raghavan, „auch Schultafeln, Toiletten und elektrisches Licht gehören zu einer weitsichtigen Bildungspolitik.“
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